Die Pestärztin
hielt das tote Kind immer noch an sich gedrückt.
»Ihr solltet es nicht mit hineinnehmen ...«, meinte von Treist hilflos und wies auf das Bündel. »Auch Leichen verbreiten die Seuche.«
Lucia sah ihn vorwurfsvoll an. »Ich kann es ja wohl nicht auf der Schwelle liegen lassen!«, stieß sie aus - und wusste doch, dass sie genau das tun sollte. Die Männer mit dem Totenkarren würden es dann aufladen. Aber nicht vor Morgen früh; so lange taten sich Straßenhunde und Ratten an den Leichen gütlich. Lucia brachte es nicht über sich, ihnen Fygen zu überlassen.
»Ich lege es in die Werkstatt ...«, flüsterte sie. Meister Wormsers Werkstatt lag im Erdgeschoss neben dem Hof, und die Gesellen waren heute nicht zur Arbeit erschienen. Lucia fragte sich flüchtig, ob sie selbst erkrankt waren oder nur von der Krankheit ihres Meisters gehört hatten.
Inmitten der Werkstatt stand eine fast fertige, fein gedrechselte Wiege. Lucia bettete Fygen hinein und wiegte sie sanft.
»Ich hoffe, die Engel sind gut zu dir ... «, sagte sie leise, ehe sie die Tür hinter sich schloss.
Clemens von Treist folgte ihr die Treppe hinauf in die Wohnräume der Familie. Aus dem Schlafzimmer schlug ihnen der Gestank nach Fäkalien entgegen.
»Durchfälle sind eine häufige Begleiterscheinung der ersten Krankheitsphase«, bemerkte von Treist. Der Gestank schreckte ihn nicht; beherzt betrat er die Kammer. Lucia beneidete ihn um den »Schnabel« mit den Kräuteressenzen.
Beim Eintreten bot sich ihr ein trauriges Bild. Agnes Wormser lag regungslos auf ihrer Seite des Bettes, den wimmernden Bonifaz im Arm. Sie war sicher noch am Leben, denn auf ihrer Stirn glänzten Schweißtropfen. Aber zart wie sie war, würde sie bald dahinschwinden. Johann dagegen warf sich im Fieber von einer Seite zur anderen. Seine Achselbeugen und seine Leisten zeigten die charakteristischen Schwellungen, aber er hatte noch Kraft.
Lucia nahm Bonifaz aus den Armen seiner Mutter. Auch das Kind fieberte und hatte sich beschmutzt. Lucia wusch es und brachte es in sein eigenes Bett, während der Pestarzt die Eltern untersuchte.
»Die Frau wird sterben«, beschied er Lucia teilnahmsvoll, als sie zurückkehrte. »Ihr Herz ist schon zu schwach. Sie kann nicht durchhalten, bis die Beulen sich öffnen ...«
»Bis sich die Beulen öffnen?«, fragte Lucia verwirrt.
Clemens von Treist nickte. »Die Beobachtung zeigt, dass die Menschen, die Blut husten, alle sterben. Aber diejenigen, die nur Beulen entwickeln, können überleben. Nach drei, manchmal vier Tagen brechen die Beulen auf. Dann läuft Eiter ab oder Schleim, eine eklige grünliche Masse. Letztlich bleibt eine Wunde. Die kann abheilen. Oder auch nicht.«
»Aber dann sterben die Menschen an Wundbrand, nicht an der Pest«, folgerte Lucia. »Kompressen mit altem Rotwein wären hier hilfreich.«
»Ihr könnt sicher sein, dass ich es versuchen werde«, erklärte der Arzt. »Und Ihr solltet weiterhin Weihrauch verbrennen. Es mag nichts nutzen, aber es verbessert den Geruch.«
Lucia öffnete auch die Läden vor den Fenstern und ließ die lauere Luft des beginnenden Abends ein. Clemens runzelte die Stirn.
»Haltet Ihr es für sinnvoll, die Kranken dem Zug auszusetzen?«, fragte er.
»Besser, als im Gestank ihrer eigenen Ausscheidungen zu ersticken«, meinte Lucia, empfand sich dann aber selbst als zu aufmüpfig gegenüber dem Arzt. Wenn sie alles besser wusste, würde er weglaufen. Und sie fürchtete sich zu Tode bei dem Gedanken, hier allein mit den Sterbenden zu bleiben. »Ihr müsst verstehen, ich weiß gar nichts«, lenkte sie ein. »Nur gerade das, was in Ar-Rasis Handbuch stand. Und manche Dinge empfinde ich einfach als vernünftig, andere nicht ...«
»Meint Ihr, es steht Euch an, darüber zu richten?«, fragte Clemens. Doch es klang nicht scharf - eher so, als hätte er sich diese Frage selbst schon gestellt.
»Als Frau, meint Ihr? Oder als Mensch vor Gottes Angesicht?«, erkundigte sich Lucia. »Als dumme Magd? Oder als Gelehrte?«
»Ihr kommt mir nicht wie eine dumme Magd vor«, bemerkte Clemens. »Und wenig gelehrt erscheint Ihr mir auch nicht. Wo habt Ihr das Buch dieses Ar-Rasi gefunden? Ich habe von ihm gehört. In Italien nennt man ihn Rhases. Aber es gab nur wenige Aufzeichnungen ...«
»Und zudem sind sie schlecht übersetzt«, bemerkte Lucia. »Das sagen zumindest die jüdischen Gelehrten. Aber eins ist über Ar-Rasi zu sagen: Alles, was er schreibt, hat er ausprobiert. Und wenn er es anwandte, sind
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