Die Pestärztin
verletzte hier ihre Pflichten, indem sie kopflos herumlief. Wenn es in Mainz ein Heilmittel gegen die Pest gegeben hätte, wäre es längst in aller Munde! Lediglich dieser Clemens von Treist bot neue Hoffnung. Lucia sandte ein weiteres Gebet zum Himmel.
»Den kleinen Kindern vergönnt Gott einen sanften Tod«, führte der Pestarzt inzwischen aus. »Er lässt sie nicht leiden, sondern hält ihr Herz an, wenn das Fieber zuschlägt. Sie sterben meist innerhalb von Stunden, während stärkere Menschen den Kampf aufnehmen. Und da muss man ansetzen! Nicht einfach nur beten und pflegen, sondern irgendetwas tun!«
Lucia verhielt sofort in ihrem Gebet. Der Mann hatte recht, es gab Wichtigeres zu tun.
Von Treist setzte inzwischen die Schnabelmaske wieder auf. »In der Verlängerung befinden sich aromatische Essenzen«, erklärte er Lucia. »Die sollen vor Ansteckung schützen.« Er schüttelte den »Schnabel« leicht, wohl um die Gerüche zu aktivieren.
»Tun sie bloß nicht«, gab Lucia zurück und löste nun auch ihren Schleier. »Wenn Ihr wüsstet, wie viel Weihrauch ich in den letzten Wochen verbrannt habe! Und trotzdem ...«
»Trotzdem ist Euer Kind gestorben. Es tut mir wirklich leid. Aber vielleicht bleibt Ihr ja wenigstens selber verschont.«
Clemens von Treist wollte Lucia bedauernd zunicken und seiner Wege gehen.
Lucia hielt ihn auf.
»Dies ist nicht mein Kind. Und wenn Ihr vor der Begegnung mit Pestopfern nicht zurückschreckt, dann kommt Ihr jetzt mit mir! Die Eltern der Kleinen mögen noch am Leben sein. Also wagt Ihr Euch wirklich in ein Pesthaus?« Ihre Worte klangen herausfordernd.
Der junge Arzt, der sich bislang ganz auf das Kind konzentriert hatte, sah dem Mädchen nun zum ersten Mal ins Gesicht. Es wirkte erschöpft und vom Weinen gezeichnet, doch in Lucias Augen blitzten Funken auf. Clemens verlor sich den Bruchteil eines Augenblicks in diesen leuchtenden Augen - und sah den Kampfgeist darin, den er so manchen gelehrten Mann vor der Pest hatte verlieren sehen.
»Ihr pflegt Eure Familie?«, fragte er vorsichtig. Das Mädchen trug die Kleidung einer Magd, drückte sich aber deutlich gewählter aus.
»Meine Herrschaft«, antwortete Lucia. »Und nun macht, die Erkrankung kann noch nicht sehr weit fortgeschritten sein. Mein Herr fühlte sich gestern Abend erschöpft, heute Morgen fieberte er. Und meine Herrin liegt erst seit heute Mittag danieder.«
Von Treist lauschte ihren Ausführungen, während er neben ihr herging. Lucia flog fast durch die Stadt; er vermochte kaum, mit ihr Schritt zu halten. Als Lucia sich nach ihm umblickte, sah sie, dass er leicht hinkte. Sie bemühte sich, langsamer zu gehen.
»Seid Ihr verletzt?«, fragte sie. Eigentlich interessierte sie sich nicht dafür, doch erschien es ihr höflich, Interesse zu zeigen. Von Treist wehrte ab.
»Eine Krankheit in meiner Kindheit ...«, bemerkte er nur vage.
Inzwischen hatten sie belebtere Straßen erreicht, und die seltsame Aufmachung des Pestarztes sorgte für spöttische Anrufe. Clemens von Treist schien sie nicht wahrzunehmen. Stattdessen befragte er Lucia zu der Krankheit ihrer Herrschaft. Die Erwähnung der Weihrauchdämpfe hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Lucia schilderte ihm auch ihre anderen Maßnahmen gegen die Krankheit.
»Woher kennt Ihr diese Waschungen mit Wein?«, fragte er schließlich. »Ich habe gehört, man führe das im Orient durch, aber in Paris und Italien riet man eher davon ab ...«
»Die Priester hier raten doch von jedem Waschen ab«, meinte Lucia spöttisch. »Baden sei tödlich, sogar den Regen soll man meiden. Aber das kann nicht sein. Die Juden baden jeden Sabbat, und sie sterben eher seltener an der Pest als die Christen.«
Clemens nickte. »Es erscheint mir auch nicht folgerichtig. Die Krankheit hat doch irgendetwas, das an uns haftet. Nur so kann sie von einem zum anderen gelangen. Es wäre nur vernünftig, es abzuwaschen. Aber warum mit Wein?«
Lucia zuckte die Achseln. »Es stand in einem arabischen Buch, das meine Kinderfrau mir zu lesen gab. Sie machte auch Umschläge mit Rotwein, wenn jemand sich verletzt hatte. Die Wunden haben nie geeitert.«
Clemens runzelte die Stirn. »Aber der große Arzt Galen sagt, sie sollten eitern. Das reinige die Wunde.«
»Der große Arzt Ar-Rasi sagt das Gegenteil«, beschied ihn Lucia. Clemens runzelte die Stirn, rügte sie aber nicht für den Widerspruch. Dafür blieb auch keine Zeit, denn sie erreichten nun das Haus der Wormsers. Lucia schloss auf. Sie
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