Die Pestmagd
zu. Ich bin der einzige Bruder!«
Sein Blick flog über all die Truhen. Auf den ersten Blick hätte man denken können, sie beherbergten lediglich gegerbte Tierhäute, die irgendjemand beschrieben hatte, doch wie viele ähnliche Schicksale mochten in ihnen verborgen sein!
» Und Johanna Arnheim war des Verstorbenen Frau.« Der Schreinsmeister klang nicht länger gelangweilt, sondern inzwischen leicht gereizt. » Soll die Witwe unversorgt zurückgelassen werden? Dann müsste sie ja der Stadt zur Last fallen!«
» Aber Johanna hat es nicht verdient«, rief Hennes, der immer verzweifelter wurde. » Sie hat ihn nicht geliebt, keinen einzigen Tag! Hätte sie sich sonst schon bald nach seinem Tod einen Buhlen gesucht? Ja, da staunt Ihr! Die einstige Winkelhure hat ihr gotteslästerliches Treiben auch in unserer frommen Stadt fortgesetzt.«
In den Augen des Schreinsmeisters glomm ein Funken Interesse auf.
» Behauptungen, die nur schwer zu beweisen sind«, murmelte er. » Denn ich wette, Ihr wart während des schändlichen Treibens nicht persönlich zugegen. Um das Testament des Verstorbenen anzufechten, bräuchtet Ihr andere, stärkere Argumente.«
» Welcher Art?«, rief Hennes.
» Nun, wenn jene Johanna beispielsweise versucht hätte, Eurem Bruder nach dem Leben zu trachten. Oder, schlimmer noch, schuld an seinem Tod wäre. Das wären solche Argumente.«
» Severin ist sehr schnell gestorben. Unter schrecklichen Qualen. Und niemand wusste genau, woran er eigentlich erkrankt war. Meint Ihr das?«
Der Schreinsmeister wiegte nachdenklich seinen kahlen Kopf.
» Beweise, Kürschner Arnheim«, sagte er nachdenklich. » Bringt mir Beweise, dann kann ich möglicherweise etwas in Eurem Sinn bewirken. Allerdings solltet Ihr Euch beeilen. Denn die Einspruchsfrist läuft, wie gesagt, in vierzehn Tagen ab.«
x
Wäre er nicht so hungrig und übermüdet gewesen – niemals hätten sie ihn überwältigen können. Doch die Schrecknisse von Andernach hatten sich tief in ihn eingegraben und ihn verfolgt, sosehr er sich auch bemüht hatte, sie schnellstmöglich hinter sich zu lassen.
Auf einmal war es gewesen, als meide ihn das Glück. Nirgendwo ein unbewachter Bauernhof, wo er schnell und gefahrlos an Nahrung kommen konnte. Er musste an die Münzen gehen, die er als eiserne Reserve in seinem Wams eingenäht hatte, und jede einzelne, die er ausgab, schmerzte ihn wie eine offene Wunde.
Deshalb nahm er nur das Nötigste zu sich, noch immer überzeugt davon, dass schon bald ein lohnendes Ziel auf ihn warte – was jedoch ausblieb. So wurde er nicht nur immer missmutiger, sondern auch langsam und unaufmerksam.
Nur deshalb hatten sie ihn überwältigen können.
Es waren zwei gewesen, offenbar bestens aufeinander eingespielt: einer mit einem zerstörten Auge, der andere, jüngere mit einem seltsamen Narbenmuster auf der Wange. Von hinten waren sie herangeschlichen, hatten ihn umzingelt und so schnell einen Strick um seine Hände geschlungen, dass ihm nur noch die Beine und Füße zur Gegenwehr blieben. Die freilich hatten sie reichlich zu spüren bekommen.
Dem Einäugigen hätte er um ein Haar die Nase gebrochen, und der Narbige trug ein dickes Veilchen am rechten Auge davon. Er aber war ihr Gefangener. Jeder Muskel, alle Knochen taten ihm weh, so erbarmungslos hatten sie auf ihn eingeprügelt.
Danach hatten sie ihm die Augen verbunden und ihn mitgeschleift. Über Stunden ließen sie ihn in einem dunklen, stinkenden Raum liegen, ohne Wasser oder Essen, den Mund mit einem ekelhaften Knebel verschlossen, der ihn zwang, äußerst vorsichtig zu atmen, wollte er nicht an seinem Erbrochenen ersticken.
Es musste schon auf den Abend zugehen, als sie endlich zurückkamen.
» Ein einziger falscher Laut«, sagte der Einäugige, während er ihm den Knebel herauszog, » und wir schneiden deine Zunge heraus. Dann sind wir für immer die Gefahr los, dass du Lärm machst.« Zur Untermalung seiner Drohung fuchtelte er mit einem Messer herum, das leicht gebogen war und im letzten Sonnenlicht silbrig glänzte.
Vom Knebel befreit, spuckte er auf den Boden, röchelte, rülpste.
» Lasst mich gehen!«, sagte er. » An einem wie mir werdet ihr nicht viel Freude haben.«
» Kommt ganz darauf an!« Der mit den Narben grinste. » Dein Ranzen war schon mal vielversprechend: gezinkte Würfel, dreifache Kartenblätter zum Abzocken, ein Elixier, mit dem man Leute schneller trunken machen kann, zwei scharfe Messer, die du, wie ich wette, äußerst
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