Die Pestmagd
innen wurde die Tür so plötzlich aufgerissen, dass sie vor Schreck den Mund öffnete. Doch der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken.
Er war älter als in ihrer Erinnerung, aber da waren noch immer die dunklen Haare, die ihm in die Stirn fielen, wenngleich inzwischen silbrig durchzogen, die kühne Nase, diese leuchtenden Augen, der freche, leicht geschwungene Mund, der sie viele Male so zärtlich geküsst hatte …
» Du?«, flüsterte er, offenkundig ebenso fassungslos wie sie. » Du bist die ehrbare Witwe?«
» Vergiss es!« Endlich fand sie die Sprache wieder, wenngleich ihre Stimme so spröde klang wie die einer uralten Frau. » Ich hätte niemals herkommen sollen!«
Sie drehte sich um, doch er war schneller, packte sie und ließ sie nicht mehr los.
» Im Leben hätte ich nicht mehr damit gerechnet, dich wiederzusehen!«, sagte Vincent.
» Das wäre auch tausendmal besser gewesen!« Johannas erste Überwältigung wich mehr und mehr dem Zorn, der sie so lange vergiftet hatte. » Du hast mich in die Hölle geschickt. Ich werde alles tun, damit dir das kein zweites Mal gelingt.«
» Dich in die Hölle geschickt?« Sein Lachen war so bitter, dass sie zusammenfuhr. » Du hast mich doch im Stich gelassen, nachdem ich bereit war, alles für dich aufs Spiel zu setzen!«
» Wie kannst du nur so lügen!«, fuhr sie ihn an. » Aber nichts anderes warst du ja schon damals in Basel – ein feiger, gemeiner Lügner, der sich heimlich aus dem Staub gemacht hat!«
Eine Frau, die gerade vorbeiging, blieb neugierig stehen, weil Johanna so laut geworden war.
» Willst du die ganze Nachbarschaft mithören lassen?« Vincent öffnete die Tür. » Komm wenigstens herein, wenn du mich weiter zu Unrecht beschuldigen willst!«
» Über diese Schwelle setze ich keinen Fuß!«, schrie Johanna. » Und es ist mir vollkommen gleichgültig, was die Leute denken, damit du es nur weißt! Sollen sie doch alle hören, wer da in ihre Stadt gekommen ist: ein Mann, der das Schicksal eines unschuldigen Mädchens auf dem Gewissen hat!« Ihre Augen leuchteten zornig grün.
Unwillkürlich machte er einen Schritt auf sie zu, Johanna jedoch wich zurück.
» Wage es ja nicht, mich zu berühren!« Ihre Stimme überschlug sich beinahe. » Und wenn du zehnmal der Leibarzt des Erzbischofs bist: Pack deine Sachen und mach dich wieder davon! In dieser Stadt ist kein Platz für uns beide.«
Sein Gesichtsausdruck hatte sich plötzlich verändert.
» Du solltest Köln verlassen, Johanna«, sagte er. » Und das so schnell wie möglich. Wenn dir dein Leben lieb ist, dann lauf davon, solange du noch kannst!«
» Damit du weiter in Seelenruhe deine gemeinen Lügen verbreiten kannst?« Herausfordernd sah sie ihn an. » Das könnte dir so passen! Ich habe ein Haus, ein Pferd, jemanden, für den ich sorgen muss – ich bleibe.«
» Sag später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt! Wenn die Anzeichen stimmen, so ist die Pest bereits in der Stadt.«
» Ach ja, die Pest«, fuhr sie auf. » Etwas anderes fällt dir nicht ein! Und wieso spricht dann niemand außer dir davon?«
» Weil die Obrigkeit Angst hat, dass die Menschen in Panik geraten«, sagte Vincent. » Aber man wird es nicht mehr sehr lange verbergen können. Ich weiß, was ich gesehen habe: die schwarzen Beulen einer Frau, die dem Tod geweiht war. Ich kenne die Seuche. Ich weiß, was sie anrichten kann.«
Johanna griff sich an den Hals, als wäre ihr das Band plötzlich unerträglich eng geworden. Dann drehte sie sich um und rannte davon, wie von einem Heer von Dämonen verfolgt.
Zweites Buch
Die Krähe
VIER
H ermann Weinsberg blickte sie so flehentlich an, dass Johannas anfänglicher Unwille zu schmelzen begann. Was konnte er schon dafür, dass sie seit Tagen weder essen noch schlafen konnte? Während sein fülliges Gesicht sich vor Verlegenheit rötete und er an seinem Kragen nestelte, als bekomme er plötzlich kaum noch Luft, schoben sich unbarmherzig Vincents Züge davor. Am liebsten hätte sie sich jetzt geschüttelt oder wäre weit weg gelaufen, um dieses quälende Bild wieder loszuwerden, doch sie wusste nur zu gut, dass alle Anstrengungen vergebens gewesen wären.
Eine Tür hatte sich geöffnet, die sie in einem anderen Leben nur unter Todesgefahr hatte schließen können. Eine Tür, durch die nun ungehindert all jene Gefühle und Empfindungen fluteten, die sie am liebsten für immer vergessen hätte.
» Ich will Euch gewiss nicht zur Last fallen«, wiederholte der Rektor zum
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