Die Pestspur
Otward schon vorgestern oder spätestens gestern zurück sein sollen. Meinst du, dass er heute kommt?«
»Natürlich kommt er heute noch«, versuchte der Blaufärber seine Frau zu beruhigen, obwohl er selbst kaum noch daran glaubte.
»Für die Heimreise von Dietmannsried braucht Otward einen guten Tag. Aber der ist längst vorüber, und es ist bereits dunkel. Wenn er in aller Herrgottsfrüh noch bei Dunkelheit losgefahren ist, müsste er spätestens jetzt hier sein«, jammerte sie, während er ihren Kopf hochhob, um das Kissen zurechtzudrücken.
Als sie wieder auf ihr Lager zurückgesunken war, küsste er sie zart auf die Stirn. »Alles wird gut.«
»Wenn ihm aber etwas passiert ist. Ich ertrage es nicht, noch ein Kind zu verlieren«, brachte sie schluchzend hervor, während sie sich schon wieder aufrichtete und ihren Mann umklammerte. Aus Angst davor, dass jetzt auch noch ihrem großen Sohn etwas zugestoßen sein könnte, fiel sie von einem Weinkrampf in den anderen. In ihrer Not malte sie sich in den dunkelsten Farben aus, was alles geschehen sein könnte: »Vielleicht ist er bei der Morgendunkelheit mit dem Ochsenkarren von der Straße abgekommen und liegt jetzt verletzt im Graben … oder er ist unverletzt und kann den schweren Karren nicht mehr aufrichten«, mutmaßte sie nachdenklich.
»Aber, Gunda«, beruhigte sie ihr Mann wieder. »Selbst wenn dies der Fall wäre, könnte sich Otward selbst helfen. Du weißt doch, dass er geschickt ist.«
»Und wenn ihm etwas anderes widerfahren ist? Vielleicht haben sie dem braven Buben Alkohol eingeflößt, und er ist leichtsinnig geworden. Er hat sich doch wohl nicht zu einer Dummheit hinreißen lassen und ist zu einer Hübschlerin gegangen?« Kaum hatte sie dies gesagt, bekreuzigte sich sich.
»Jetzt sei aber still, Weib! Denk doch nicht so etwas. Otward geht nicht zu einer Metze!«, schimpfte ihr Mann, der sich aufgrund des Gehörten ebenfalls bekreuzigt hatte. »Unser Sohn ist kein Lumpenhund, der sich auf einem Lotterlager niederlässt. Er ist ein braver Junge und würde so etwas niemals tun. Außerdem gibt es in Dietmannsried kein Dirnenhaus!«
»Das wirst ausgerechnet du wissen. Aber in Kempten gibt es so etwas! Was ist, wenn er dort Rast gemacht hat und sich zu einem Würfelspiel hat verleiten lassen oder gar überfallen worden ist? Ja, das wird es sein!«, vermutete sie jetzt und beharrte auf dieser Theorie.
»Bitte, Gunda, mal doch den Teufel nicht an die Wand.« Der Blaufärber, der jetzt am Ende seiner Weisheit war und sich ebenfalls keinen Reim auf das Ausbleiben seines Sohnes machen konnte, versuchte immer wieder, seine Frau zu beruhigen. Aber es nützte alles nichts. Otward war nicht nach Hause gekommen, und die Nacht vor dem Christfest blieb für die Familie ohne Schlaf. Bevor sich auch der brave Mann hingelegt hatte, hatte er im Auftrag seiner Frau zwei Kerzen – für jeden seiner Söhne eine – entzündet.
»Damit sie zurückfinden«, hatte Gunda gesagt und war in den Armen ihres Mannes eingenickt. Das ruhige Schnaufen seiner Frau hatte auch den übermüdeten Mann einschlafen lassen. Aber es dauerte nicht lange, und sie wurden aus dem Schlaf gerissen. »Die Wasserleiche!«, schrie der Blaufärber und schoss hoch.
»Was ist denn?«, fragte seine Frau schlaftrunken.
»Nichts! Schlaf weiter«, murmelte er und war froh, dass sie nicht verstanden hatte, von was er geträumt hatte. Ihm war wieder in den Sinn gekommen, dass der Kastellan ihm von einer Wasserleiche im Entenpfuhl erzählt hatte. Am liebsten würde er jetzt gleich zum Teich gehen und nachsehen. »Aber wonach soll ich überhaupt suchen? So eine Narretei! Die Leiche, die man darin gefunden hat, war laut ärztlicher Untersuchung zweifellos der Totengräber. Außerdem hat man sie ja längst geborgen und verbrannt. Es ist unmöglich, dass es sich bei dem Toten um Otward gehandelt hat. Er ist nach Dietmannsried gefahren. Was hätte er denn am Entenpfuhl zu suchen gehabt? Zudem ist der Weiher jetzt zugefroren, und ich würde sowieso nichts finden, was auf Otward hinweisen könnte.«
Die Gedanken an die Wasserleiche wollten beim Blaufärber einfach nicht mehr verschwinden und kehrten – lästigen Geldverleihern gleich – in immer kürzeren Abständen zurück.
»Schläfst du?«, fragte seine Frau.
»Nein! Ich kann auch nicht schlafen.«
Irgendwann aber ging auch diese lange Nacht zu Ende. Für das besorgte Paar war es eine Erlösung, als der Tag hereinbrach.
»Es schneit etwas«,
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