Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Pestspur

Die Pestspur

Titel: Die Pestspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Wucherer
Vom Netzwerk:
Heuer hatten sie für den Wappensaal eine mächtige Weißtanne, die vom Sturm umgerissen worden war, mitgebracht. Allerdings war die so gewaltig, dass sie noch bearbeitet werden wollte.
    »So, Diederich. Jetzt haben wir nicht nur einen viel zu großen Weihnachtsbaum, sondern bekommen auch noch etliche Kretten voller Brennholz«, sagte der Vater zum Sohn, während er den mächtigen Baum um mehr als vier Ellen kürzte, damit er ihn über das Treppenhaus in das erste Obergeschoß des Herrschaftsgebäudes schaffen konnte, ohne allzu großen Schaden anzurichten. »Allerdings nützt uns dies im Moment noch wenig. Weißt du, warum?«, fragte der Kastellan listig.
    »Was meinst du, Vater?«
    »Na, das mit dem Brennholz!«
    »Ach so«
    »Und? – Warum nützt uns dies im Moment wenig?«,
    »Weiß nicht!«, antwortete der Bub, dessen Wangen durch die Kälte zu glühen schienen, unlustig.
    »Also, warum?«, blieb der Vater beharrlich.
    »Weil Ignaz das Holz erst noch klein hacken muss!«, knurrte der Kleine, der es nicht mochte, wenn er sich geistig anstrengen musste.
    Aber der Vater ließ nicht locker: »Und weiter?«
    Diederich überlegte ein Weilchen, bevor er antwortete: »Weil … weil es mindestens ein halbes Jahr lang trocken lagern muss, bevor wir es verbrennen können!«
    »Na also, es geht doch«, scherzte der Kastellan, obwohl ihm in diesem Punkt nicht zum Scherzen zumute war. Es war ihm wichtig, dass auch sein jüngster Sohn trotz seiner Lernschwäche von allem möglichst viel mitbekam.
    Nachdem sie mit Hilfe des Knechtes und einer der Schlosswachen die Weißtanne an Ort und Stelle geschafft und diese nach etlichen Versuchen endlich zum Stehen gebracht hatten, konnten sie sich der nicht so arbeitsintensiven Weihnachtsdekoration im Vogteigebäude widmen. Die Tanne, die sie für ihre Wohnung gefällt hatten, war ein besonders bemerkenswertes Exemplar – nicht, weil es sich ausnahmsweise um eine der selteneren Weißtannen handelte, sondern weil es im Grunde genommen ein hässlicher Krüppel war. Dennoch hatte Diederich seine Freude daran; schließlich hatte er den Baum ganz allein auswählen dürfen … auch wenn ihn der Vater unauffällig mit der Nase darauf gestoßen hatte.
    Dass die Tanne recht krumm gewachsen war, hatte der gut gelaunte und deswegen fast etwas übermütige Knabe nicht bemerkt und würde auch dem Rest der Familie nicht großartig auffallen – sie musste nur in die richtige Position gebracht werden.
    »Wenn sich die Zweige durch die Wärme nach unten biegen, wird es schon gehen«, flüsterte Ulrich seiner Frau so leise ins Ohr, dass es Diederich nicht hören konnte.
    In seiner Eigenschaft als verantwortungsbewusster Forstverwalter des Grafen hätte er es niemals zugelassen, für den privaten Bedarf den schönsten Baum zu fällen. Während die Männer den unregelmäßig gewachsenen Baum aufstellten und immer wieder hin und her drehten, damit er sich von seiner schönsten Seite präsentieren konnte, begannen Rosalinde und ihre Herrin mit den letzten Weihnachtsvorbereitungen.
    »Du weißt, was du zu tun hast. Los jetzt!«, gebot Konstanze der Hausmagd, während sie sich zufrieden die Hände rieb. »Und ich decke den Tisch«, deutete sie ihrem Mann mit einer unmissverständlichen Geste, sein soeben bereitgelegtes Raucherbesteck sofort wieder beiseite zu legen.
    So langsam entfaltete sich die vertraute Weihnachtsstimmung, zu der auch die Hektik gehörte, die Konstanze alljährlich am Heiligen Abend nicht nur selbst an den Tag zu legen pflegte, sondern auch unter allen, die mit ihr zu tun hatten, verbreitete.
    »Ohne die Unruhe meiner geliebten Frau wüsste ich nicht, dass heute Weihnachten ist«, lästerte der Kastellan wie alle Jahre und fing sich – wie ebenfalls alle Jahre – dafür einen Klaps auf den Hinterkopf ein.
    In der Küche war es wohlig warm, und etliche Kerzen verbreiteten das angenehme Licht, das nur an einem Tag des Jahres, eben am Heiligen Abend, so warm und weich schien.
    Zum gewohnten Prasseln des Feuers gesellte sich jetzt auch noch das Knacken und der Geruch der brennenden Äste, die der Kastellan von den Weihnachtsbäumen entfernt, zerknickt und in den Ofen geworfen hatte. Ja, das war es: Das war der Geruch von Weihnachten! Einen Moment lang sogen alle, die sich in der Küche aufhielten, den würzigen Duft ein.
    »Hör auf zu träumen. – An die Arbeit!«, mahnte die Hausherrin ihre Magd und ging zu der lederbeschlagenen Holztruhe, in der sie ihre besten Stickereien und

Weitere Kostenlose Bücher