Die Pestspur
dass aus ihr etwas Besonderes geworden war. Obwohl sie ein einfaches Mädchen aus dem Volk und lediglich einem Adligen angetraut worden war, zeigte sie sich stets stolz auf ihren Stand und ließ dies bei Notwendigkeit die anderen Frauen des Dorfes merken. Dieser Wesenszug gefiel Ulrich Dreyling von Wagrain ganz und gar nicht. Aber was sollte er machen. Er liebte sie. Für ihn war es wichtig gewesen, dass er sich mit dem Grafen in lockerer Atmosphäre hatte unterhalten können, während sich Konstanze als ideale Gesprächspartnerin für die Gräfin entpuppt hatte. Dass auch seine Kinder etwas von den weihnachtlichen Besuchen in Immenstadt gehabt hatten, war ohnehin das Allerwichtigste gewesen. Da es nicht einmal im Staufner Schloss eine Krippe gab, hatten sich die Buben immer ganz besonders auf den Ausflug nach Immenstadt gefreut, wo sie stundenlang wie versteinert vor der vier Fuß langen frühbarocken Krippe mit ihren über siebzig Figuren und ebenso vielen Tieren gestanden waren. Als diese Krippe vor Jahren noch in der alten Burg Rothenfels ihren Platz gehabt hatte, waren es weniger Figuren gewesen, und sie hatte nicht so imposant gewirkt. In Immenstadt hatte sich durch das Zusammenlegen zweier Krippen die Anzahl der aus Lindenholz geschnitzten und bemalten Figuren verdoppelt. Die Buben hatten dann immer die Kamele und die Elefanten gezählt. Dass es allerdings auch sechs Heilige Könige gegeben hatte, war erklärungsbedürftig gewesen.
Als der damals fünfjährige Eginhard das Wunderwerk erstmals sah, hatte er mit dem Finger auf eine Figur gezeigt und aufgeregt gerufen: »Schau mal, Papa, der ist ja ganz schmutzig.« Er meinte einen kohlrabenschwarzen Jungen mit Turban, der ein Kamel führte.
Seine Mutter hatte geantwortet: »Nein, mein Sohn, das ist ein Mohr.«
»Was ist ein Mohr?«, hatte Eginhard wissbegierig gefragt.
Konstanze erinnerte sich, dass es eine ganze Weile gedauert hatte, bis der Vater alle Fragen seines wissensdurstigen Sohnes bezüglich dieser fremdartig wirkenden Krippenfigur zufriedenstellend beantwortet hatte. Zu Konstanzes Leidwesen hatte es seit Jahren keine derartigen Fragen mehr gegeben. Denn von dem Jahr an, als die gräfliche Familie nach Konstanz gereist war, waren sie zu Weihnachten nicht mehr ins Immenstädter Schloss geladen worden. »Das sind noch Zeiten gewesen, als vor dem Schlossportal zwei mit Glitzerpapier geschmückte Bäume gestanden sind«, seufzte Konstanze, als ihr die früheren Besuche in den Sinn gekommen waren.
Obwohl die gräfliche Familie zur Weihnachtszeit noch nie die Dreylings von Wagrain besucht hatte, wurde auch hier, im Wappensaal des Schlosses Staufen, immer ein großer Weihnachtsbaum aufgestellt, genau so, wie es vereinzelt an Adelshöfen üblich war. Der Baum wurde erst nach Dreikönig wieder entfernt und verbrannt. Der dadurch verursachte Qualm sollte Geister und Dämonen besonders wirkungsvoll von Haus und Hof fernhalten. Dem Staufner Pfarrherrn wollte dies gar nicht gefallen. Aus seiner Sicht wurden hier gute christliche Gepflogenheiten mit schlechten heidnischen Gebräuchen vermischt.
Der Meinung des Pfarrers zum Trotz, durften die Dreylings von Wagrain mit ausdrücklicher Genehmigung des Oberamtmannes auch einen Baum für ihre privaten Wohnräume fällen.
»Wenn Ihr Euch auch in diesem Jahr schon wieder nicht an den Lichterbäumen des Immenstädter Schlosses erfreuen könnt, soll dieses Licht wenigstens zu Hause Euer Herz erfreuen. Frohe Weihnachten für Euch und die Euren«, hatte Speen gönnerhaft zum Kastellan gesagt und leise hinzugefügt, dass er auf Druck seiner Frau in seiner Wohnung heuer ebenfalls einen Baum aufstellen müsse.
Solange die gräfliche Familie in Immenstadt weilte, hatte es zum weihnachtlichen Ritual der Dreylings von Wagrain gehört, die hohen Herrschaften zu besuchen. Die Kinder des Schlossverwalters waren dann immer mit den jungen Herrschaften herumgetollt, während ihre Eltern Geschenke entgegennehmen durften und mit den Gastgebern ein paar Gläser Wein getrunken hatten. Dabei war es schon vorgekommen, dass der Vater die Kandare bei der Heimfahrt seiner Frau hatte überlassen müssen.
Jetzt aber war es an Weihnachten stockdunkel im Residenzschloss Immenstadt.
*
Dass ihre Männer seit Jahren am Vormittag des Heiligen Tages in den Wald gingen, um zwei Bäume zu schlagen, während Konstanze mit der Magd Rosalinde die Wohnung festlich schmückte und die Speisen vorbereitete, war längst zur lieben Gewohnheit geworden.
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