Die Pestspur
Kutschbock saß, würde dies ihren Gesundheitszustand mit Sicherheit verschlimmern. Es war also besser, dass sie nichts davon mitbekam.
Der Kastellan und Eginhard waren gerade auf dem Weg zu Resi Dobler, um ihren Rat bezüglich der beim Medicus gefundenen Kräuter einzuholen, als sie das merkwürdig anmutende Gefährt sahen.
»Das darf doch nicht wahr sein!«, schrie der Vater seinem Sohn zu, während er mit einer Hand zu dem kleinen Fuhrwerk zeigte und mit dem Ellenbogen des anderen Armes Eginhard ungewollt unsanft in die Seite stieß.
»Was denn, Vater?«
»Ich glaub’ es einfach nicht. Doch, sie sind es: die Opsers!«
»Wer?«
»Na, Hannß und Gunda Opser, die Blaufärber!«
Sie rannten dem Karren freudig winkend entgegen.
Was sie sahen, war allerdings alles andere als erfreulich. Den beiden bot sich ein erbärmliches und beängstigendes Bild zugleich. Die Blaufärber schienen zu Eissäulen erstarrt zu sein. Ihre Gewandungen waren von einer weißen Eiskruste überzogen. Die Augenbrauen der beiden und der Stoppelbart des Mannes glitzerten ebenfalls weiß im Schein der zaghaften Sonne. Ihr Atem war zu langen gelblichen Zapfen gefroren, die von der Nase und von den Mundwinkeln herunterhingen und sich in jedes einzelne Haar verhakt hatten. Alles wirkte weiß durchdrungen, irgendwie bizarr.
Die ständige Bewegung musste das zähe Zugtier, aus dessen Nüstern weiße Dampfwolken emporstiegen, am Leben gehalten haben.
Der Kastellan war selbst wie erstarrt, als er das merkwürdige Gebilde sah.
»Weilen sie überhaupt noch auf dieser Welt? Oder sind es nur ihre Körper, die der treue Maulesel nach Hause gebracht hat?«, fragte er Eginhard, als wüsste dieser mehr als er. Der Kastellan war so entsetzt, dass er sich für einen Moment lang nicht näher an den Karren heranwagte. »Sind sie tot?«, setzte er mit einer Frage nach.
»Wir nicht … noch nicht!«, kam leise eine heiser grummelnde Antwort vom Kutschbock herunter.
»Unser Herrgott sei gelobt«, sagte der Kastellan dankbar, bevor er die Hände faltete und zum Karren eilte.
»Sie müssen sofort ins Haus«, ordnete Eginhard an. Er wusste, dass jetzt nicht der Herrgott, und sei er noch so gelobt, sondern nur eine wohldosierte Wärmezufuhr und Flüssigkeitsaufnahme helfen konnte.
»Ja! – Weißt du was? Wir bringen sie zum Bechteler«, entschied der Kastellan. Während er dem Blaufärber die Zügel aus den starren Händen nahm und den Maulesel zum nahen Bauernhof hin lenkte, rannte Eginhard voraus, um ihre unerwartete Ankunft anzukündigen.
Der kernige Bechtelerbauer und seine hilfsbereite Frau vergeudeten keine Zeit und hasteten, ohne Zeit zu vergeuden, dem Fuhrwerk entgegen. Gleichzeitig ließen sie von der Küchenmagd nach Otto rufen. Als sie gemeinsam die steif gefrorenen Opsers vom Bock geholt und ins Haus gebracht hatten, begannen sie sofort, die beiden Eissäulen vorsichtig auszuziehen, was sich wegen der vereisten Gewandungen als recht schwierig erwies.
»Resi! – Leg Holz nach und bereite heißes Wasser«, rief die Bäuerin der alten Doblerin zu.
Als Eginhard die bockharten Wollhandschuhe vorsichtig von den Händen zog, kamen darunter schwarze Fingerkuppen zum Vorschein.
»Schnell! Zieht ihnen die Schuhe und die Strümpfe aus! … Aber vorsichtig!«, rief er in befehlendem Ton. »Das habe ich mir gedacht. Finger und Zehen sind schon fast erfroren. Otto, hol schnell einen Eimer Schnee herein!«
Der Hofknecht schaute zwar etwas verdutzt, tat aber, wie ihm geheißen.
»Und jetzt macht mit den Händen der armen Frau und den Füßen der beiden das Gleiche, was ich mit den Händen des Blaufärbers mache: Reibt sie fest mit Schnee ein. Keine Angst, sie spüren nichts.«
Die Umstehenden schauten sich zunächst ungläubig an, bevor sie ihre fragenden Blicke in Richtung Eginhard lenkten.
»Die Blaufärber sind kurz vor dem Erfrieren, und wir sollen sie mit eiskaltem Schnee einreiben?«
»Ja! Und beeilt euch«, schnarrte Eginhard, der jetzt keine Zeit für Erklärungen hatte, zurück.
»Er wird wissen, was er tut. Immerhin ist er ein Studiosus der Medizin«, sagte Otto und ermutigte dadurch die anderen, zu tun, was ihnen gesagt worden war.
»Hört Ihr mich, Herr Opser? … Ihr dürft nicht einschlafen. Jetzt nicht mehr! Ihr habt es geschafft und seid in Sicherheit«, beschwor er die beiden immer wieder, um sie wach zu halten. Eginhard wusste, dass durch die aufkommende Wärme genau jetzt der Moment war, an dem sie für immer einzuschlafen drohten
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