Die Pestspur
man ihn vor längerer Zeit mit einem Schimmel gesehen hat«, erinnerte sich Lodewig mit Entsetzen. Den beiden rutschte jetzt endgültig das Herz in die Hose, was dazu führte, dass Diederich einnässte. Lodewig wollte seinen Bruder packen und ihn wieder hinter die Hausecke ziehen.
Aber Diederich wehrte sich und rief: »Papa, Papa!« Er hatte den Hengst seines Vaters – das einzige rabenschwarze Pferd im gesamten rothenfelsischen Gebiet – erkannt, riss sich los und rannte wild winkend auf die Straße. Die Brüder hatten Glück. Es war tatsächlich ihr Vater, der an ihnen vorbeigeritten war und seinen Rappen abrupt zum Stehen brachte, nachdem er die Stimme seines jüngsten Sohnes gehört hatte.
Er staunte nicht schlecht, seine beiden Söhne um diese Uhrzeit an dieser Stelle und in dieser Verfassung zu sehen. Zunächst aber hatte der Schlossverwalter Ulrich Dreyling von Wagrain keine Zeit, sich mit ihnen zu befassen. Er hatte Mühe, sein Pferd zu beruhigen. Als Diederich schreiend auf ihn zugerannt war, war es erschrocken hochgestiegen. Aber der erfahrene Reiter brachte es schnell wieder zur Raison. Tänzelnd und schnaubend nahm es das Getätschel seines Herrn an und hatte sich bald ganz beruhigt – nicht zuletzt auch, weil es die Söhne des Kastellans kannte.
»Was tut ihr denn um diese Uhrzeit hier?«, fragte er und wollte ein strenges Gesicht aufsetzen, was ihm aber nicht gelang. Als er bemerkte, dass Diederich sich zusammenriss, um nicht loszuheulen, schaute er besorgt von seinem Ross herunter. Aber es nützte nichts: Diederich konnte nicht mehr an sich halten und schluchzte heftig. Es war einfach zu viel für ihn, und so brach jetzt alles auf einmal aus ihm heraus.
»Komm, Diederich, steig auf«, bot der Vater mit sanfter Stimme an, während er ihm eine Hand herunterreichte und ihn vor sich auf den Sattel hob. Als er merkte, dass Diederich eingenässt hatte, wusste er, dass irgendetwas Schlimmes vorgefallen sein musste.
»Auf geht’s, Lodewig! Schwing dich hinter mich!«, gebot er seinem Ältesten mit einem leicht verschärften Tonfall.
»Danke Papa!«, kam es kleinlaut zurück.
»Seit wann nennst du mich Papa?«, wunderte sich der Kastellan, der jetzt ganz sicher war, dass die beiden etwas auf dem Kerbholz haben mussten.
Während sie gemächlich den steilen Schlossbuckel hochritten, berichtete Lodewig aufgeregt, was sie auf dem Kirchhof erlebt und dass sie den Totengräber im Gespräch mit einem Unbekannten belauscht hatten. Von der toten Frau auf dem alten Leprosenfriedhof wollte er allerdings noch nicht erzählen.
»Heiliger Josef und Maria!«, entfuhr es dem Kastellan, der den Totengräber vor nicht allzu langer Zeit in dieses Amt gehievt hatte.
Kapitel 5
Während sich die Söhne des Kastellans längst in Sicherheit befanden und soeben mit ihrem Vater durch das Schlosstor ritten, musste der Medicus vom Totengräber einen Anschiss über sich ergehen lassen, der sich gewaschen hatte.
»Hast du dich wieder beruhigt?«, beendete Heinrich Schwartz die Schimpfkanonade seines Kumpanen, als ihm diese leid geworden war.
»Ja! Aber es stimmt doch, mit dir kann man nichts anfangen.«
»Schon gut … und jetzt?« Der Totengräber hieb mit einem Fuß so fest in den Erdhaufen, dass sein Schuh tief im Dreck versank. Dennoch schien ihm dies gut getan zu haben – jedenfalls hatte er sich beruhigt.
»Dass sie mich erkannt haben, steht außer Frage, aber dies ist nicht so schlimm – immerhin gehört ein Leichenbestatter auf den Friedhof. Das ist doch normal, oder?«
Der Medicus nickte, äußerte aber nichts dazu und ließ den Totengräber weiterreden: »Wenigstens dürften sie dich nicht erkannt haben; du hast fast nichts gesagt und deinen Kopf gesenkt gehabt«, analysierte Ruland Berging die Lage.
Heinrich Schwartz runzelte die Stirn. »Das Problem ist nur, dass die beiden Burschen uns belauscht haben. Die Frage ist, was sie alles gehört haben.«
Der Totengräber nickte nachdenklich und betrachtete sich Lodewigs Schuhwerk. »Wir haben den Schuh des Größeren«, sagte er und hielt ihn wie eine Trophäe triumphierend in die Höhe. »Damit kriegen wir sie.«
»Außerdem haben wir nicht nur den Schuh, sondern vom anderen sogar den Namen«, ergänzte der Medicus.
»Du hast den Namen, den der Größere dem Kleineren zugerufen hat, auch gehört?«, wunderte sich der Totengräber. »Ich habe gedacht, du hättest von der ganzen Aktion kaum etwas mitbekommen.«
Arschloch, dachte sich der Medicus.
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