Die Pestspur
sich verbissen vor, bis zum Schluss zu schweigen und den ehemaligen Totengräber nicht zu verpfeifen.
Wahrscheinlich taucht er auf, bevor es mir an den Kragen geht und rettet mir im letzten Moment den Arsch, redete sich der durch die Einsamkeit der Haft und den Alkoholentzug zeitweise verwirrte Schwerverbrecher ein.
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An diesem Rechtsakt wollte die Bevölkerung nur allzu gerne teilnehmen. Und das durfte sie auch, zumindest was die Vollstreckung des Urteiles anbelangte. Immerhin sollten auf Wunsch der Obrigkeit gerade die heutige Urteilsverkündung und der voraussichtlich direkt darauf folgende Hinrichtungsakt eine ganz besondere erzieherische Wirkung auf die Öffentlichkeit haben. So einen Massenmord durfte es im gesamten rothenfelsischen Gebiet nie mehr geben. Nie mehr sollten so viele Menschen außerhalb eines Krieges durch Mörderhand sterben dürfen.
Wie von der Obrigkeit gedacht und von der einheimischen Bevölkerung erhofft, strömten die Neugierigen an diesem Tag nicht nur aus Staufen, sondern aus allen Himmelsrichtungen herbei. Sie wollten die mittlerweile zu unrühmlicher Berühmtheit gelangte Fratze des Todes von Angesicht zu Angesicht sehen.
Zur eigentlichen Gerichtsverhandlung war das Volk aber nicht zugelassen. Es durfte an diesem Tag nicht einmal in die unteren Gasträume der ›Krone‹, geschweige denn in den zum Gerichtssaal umfunktionierten Saal im oberen Stock, was Matheiß, dem geschäftstüchtigen Wirt, so gar nicht gefallen mochte. Damit kein Unbefugter in das Gasthaus oder gar in den Gerichtssaal gelangen konnte, um womöglich dem Gefangenen die Kehle durchzuschneiden, waren schon am frühen Morgen links und rechts der Außentreppe und am Saaleingang jeweils zwei Wachen postiert worden.
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Im rothenfelsischen Gebiet war es üblich, dass vor Gerichtsverhandlungen Messen gelesen wurden. Diese doch recht neue Mode hatte der Graf von seinen Reisen durch die Städte des Rheinlandes mitgebracht und hier in der Provinz eingeführt. Der Staufner Pfarrherr wäre froh, wenn er – Weihnachten ausgenommen – immer so viele Kinder Gottes um sich versammeln könnte wie an diesem Tag. Allerdings war dieser Dienstag trotz der bis auf den letzten Platz besetzten Kirche kein Freudentag für ihn. Der ansonsten redegewandte Kirchenmann fand für die Predigt kaum Worte. Zu nahe waren auch ihm die grausigen Ereignisse der letzten Zeit gegangen. Da er wusste, dass seine Schäflein heute nichts anderes im Sinn hatten, als Rache an demjenigen zu nehmen, der grenzenloses Leid über sie gebracht hatte, zitierte er stattdessen wortgewaltig aus Psalm 9/13: »Denn er, der Rächer des Blutes, hat ihrer gedacht; er hat die Rufe der Armen nicht vergessen!«, erntete dafür allerdings nur hämische Reaktionen der Kirchenbesucher.
Nachdem der Gottesdienst – bei dem alle Prozessbeteiligten anwesend waren und woran sich auch der Angeklagte hatte beteiligen müssen – zu Ende war, läuteten die Kirchenglocken den Beginn der Gerichtsverhandlung ein.
Nach Beendigung der Messe wurde der bestens bewachte Medicus noch im Haus des Herrn wieder in Ketten gelegt.
Diesem Akt wohnten diejenigen, die in der übervollen Kirche Platz gefunden hatten, schweigend bei. Als aber der Richter, die Beisitzer und der Gefangene aus dem Dunkel der Kirche traten, um sich zum Zug zur ›Krone‹, in der Gericht gehalten werden sollte, zu formieren, machte sich der Ärger gewaltsam Luft. Es hagelte von allen Seiten so lange Schmährufe und sogar Steine auf den Angeklagten, bis als Letzter der Propst vor das Portal trat und versuchte, die aufgebrachte Menge zu beruhigen. Da ihm dies nicht gleich gelang, schrie er den ansonsten gottesfürchtigen Menschen jetzt doch laut entgegen: »Wer von euch ohne Sünde ist …«
Zur Bekräftigung seiner Worte riss er dem erschrockenen Mesner das Prozessionskreuz, das bei jeder sich bietenden Gelegenheit mitgeführt wurde, aus der Hand und hielt es dem Mob zornig entgegen. Die Leute beruhigten sich aber erst, als er sie segnete und sie aufforderte, das Kreuzzeichen zu machen und ein stilles Vaterunser zu beten.
So konnte die Gesellschaft doch noch unbehelligt und in aller gebotenen Ruhe zur ›Krone‹ hinunterziehen.
Als sich ein geschäftstüchtiger Händler von auswärts mit seinem Bauchladen durch die Menge drückte und dabei glockenschwingend schrie: »Getrocknete Früchte! – Dörrobst vom Bodensee! – für zehn Stück nur einen Heller!«, regten sich die allesamt angespannten Staufner
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