Die Pestspur
nur mit den Achseln und wandte sich an den Angeklagten, der mittlerweile wie apathisch in seinem Stuhl hing und den Eindruck erweckte, als wüsste er überhaupt nicht, was die hohen Herren eigentlich von ihm wollten.
Die Wachen zu seinen Seiten griffen ihn unter den Schultern und zerrten ihn unsanft vom Hocker. Ein Soldat packte den Kopf des Sünders am Kinn und riss ihn so ruckartig hoch, dass der Medicus aufschrie.
Jetzt fragte der Richter mit ruhiger Stimme, ob der Angeklagte – wie er es bereits schon getan habe – auch hier vor diesem Gericht zugäbe, neunundsechzig Menschen vorsätzlich mit Pflanzengift ohne jegliche Skrupel ermordet zu haben.
Es war so lange still im Saal, bis einer der beiden Soldaten den völlig verstörten Angeklagten anbrüllte: »Antworte dem ehrenwerten Herrn Richter!«
Kaum hörbar war ein zaghaftes »Ja!« zu vernehmen.
»Lauter!«
»Ja! Ja! Ja! Ich habe mich des Todes vieler Menschen schuldig gemacht, bitte aber dennoch um Gnade«, brüllte der Medicus hysterisch in den Gerichtssaal, bevor sein Geschrei in ein Wimmern und Schluchzen überging, das eines Mannes unwürdig war. Als er sich wieder einigermaßen gefasst hatte, fuhr er stotternd fort: »Ich kann eigentlich nichts dafür. Ich bin dem Teufel Alkohol verfallen, habe aber auf Geheiß eines anderen Teufels gehandelt.«
Die Anwesenden deuteten dies so, dass er die Ausgeburt der Hölle meinte, die sein Tun gelenkt hatte. Dass er jetzt doch noch – nachdem ihm der Totengräber augenscheinlich nicht mehr helfen würde – berichten wollte, nicht der eigentliche Urheber dieser profitablen Morde gewesen zu sein, ging im Gemurmel der Beisitzer unter. Niemand bekam mit, als er leise vor sich hinschluchzend von sich gab, dass nicht er, sondern der Totengräber Ruland Berging den ersten Gedanken zu dieser Giftmordserie gehabt hatte. So wurde – nach der Vernehmung im Schloss Staufen – unwissentlich zum zweiten Mal die Möglichkeit vertan, den nur teilweise gelösten Fall ganz aufzuklären. Auch wenn der Totengräber aus unerklärlichen Gründen verschwunden war, hätte man ihn – eine diesbezüglich eindeutige Aussage des Arztes vorausgesetzt – in Abwesenheit verurteilen können. Zumindest hätte man die ganze unglaubliche Wahrheit über die grausamen Morde erfahren.
*
Um wieder Ruhe in den Saal zu bringen, klopfte der Richter mit seinem Holzhammer energisch auf den Tisch.
»Ich gehe davon aus, dass alle genug gehört haben, um ein Urteil fällen zu können – oder etwa nicht?«, gab er unmissverständlich die Richtung vor. Da kein Einwurf kam, sah er sich in seiner unorthodoxen Vorgehensweise bestätigt und kam ohne Umschweife zum Kern der Sache, der gleichzeitig das von ihm angepeilte Ziel war.
»Nun denn: Wie sollen die vielen Toten gesühnt werden? Ist eine Schandstrafe angemessen, sollen wir ihm seine Mörderhände abschlagen und die Armstummel gesundpflegen lassen, damit er jämmerlich verhungert, wenn wir ihn zum Teufel jagen? Oder sollen wir den Bann über ihn verhängen, damit sich das Volk selbst mit ihm beschäftigen kann?«
Er machte jetzt eine kleine Pause und blickte fragend in die Runde, bevor er mit hinterlistig unterlegter Stimme die alles entscheidende Frage stellte: »Oder hat er sein schändliches Leben verwirkt?«
Die Augen des Richters blitzten gefährlich auf.
»Ja! Aber zuerst verdient er die Folter, dann den Tod! – Baumeln soll er! – Ans Rad mit ihm!«, riefen etliche der Beisitzer wild durcheinander.
Da kein Einziger für eine milde Strafe plädierte und Ulrich Dreyling von Wagrain ebenso schwieg wie der Propst, stellte der Richter das Todesurteil fest. »Ihr habt Eure Meinung mehrheitlich und deutlich kundgetan. – So soll es denn sein. Gemäß rothenfelsischem Gesetz kann er jetzt nur noch mit dem Rad gefoltert werden. Der Medicus wird vom Leben zum Tode geführt werden!«, lautete das Urteil des Richters knapp. »Bestätigt es durch Eure Unterschrift im Protokollbuch, das Euch der Gerichtsschreiber nun vorlegen wird.«
»Der macht aber wirklich kurzen Prozess«, flüsterte der Propst dem ebenfalls erstaunten Kastellan ins Ohr, während der dicke Wälzer, in dem schon siebenunddreißig Verhandlungsverläufe akribisch festgehalten worden waren, herumgereicht wurde.
»Ja. Deswegen nennt man ihn unter vorgehaltener Hand auch ›Richter Gnadenlos‹«, bemerkte der erstaunte Schlossverwalter des Grafen so leise, dass es außer dem kirchlichen Würdenträger niemand hören
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