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Die Pestspur

Die Pestspur

Titel: Die Pestspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Wucherer
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seiner Hand schwingende Bewegungen vollführte. »Das vorne sitzende Beil und der hinten sitzende Haken sind besonders schön ziseliert, und an der achtkantigen Tülle sind Wollfransen in den Farben unseres Landesherrn befestigt.«
    »Aber warum tragen die Soldaten anstatt neuer Gewehre diese unhandlichen alten Dinger?«, unterbrach ihn der neugierige Knabe, zu dem sich zur Freude des Kesselflickers ein paar weitere Zuhörer gesellt hatten.
    »Tja, was mag wohl der Grund dafür sein, dass diese schöne, aber alte Waffe – immerhin ist sie fast ein Vierteljahrtausend alt – noch heute öffentlich präsentiert wird? Was meint ihr …«, fragte er, während er jedem einzelnen Zuhörer in die Augen sah, »könnte der Grund hierfür sein?« Dem Kesselflicker schien es sichtlich Spaß zu machen, sein Wissen einem interessierten Publikum weiterzugeben.
    »Weiß ich nicht«, gab einer der Herumstehenden achselzuckend zu.
    »Aber ich weiß es!«, antwortete der Handwerker mit den schrundigen Händen und fuhr mit seinen Ausführungen fort, während er nach Westen zeigte: »Der Grund liegt darin, dass 1610 in der Schweiz ein großes Erdbeben stattgefunden hat, dessen Auswirkungen bis zum Bregenzer Wald und sogar bei uns im Allgäu bemerkt worden sind. Die Folge dieses Erdbebens war, dass es in der Schweiz zu etlichen Erdrutschen gekommen ist, wovon einer sogar für eine riesige Flutwelle im Vierwaldstätter See gesorgt hat.«
    »Aber was hat dies mit der zu tun?«, unterbrach ihn der Junge, der sich unter einer Flutwelle nichts vorstellen konnte und besser danach gefragt hätte, als auf die Hellebarde zu zeigen.
    »Das kann ich dir sagen: Durch die Flutwelle hat die Erde unter den Füßen vibriert, das hat man bis nach Immenstadt gespürt, und da man dort noch nichts von einem Erdbeben gewusst hat, hat man angenommen, dass es sich um ein riesiges Reiterheer handelt, das auf die Residenzstadt zustürmt. Deswegen hat Benedikt von Huldenfeld, ein junger Offizier, der den beurlaubten Hauptmann der Stadtwache vertreten hat, die vier großen Alarmtrommeln schlagen lassen. Er hat sofort alle verfügbaren Männer antreten und mit eben dieser Waffe, der Hellebarde, ausrüsten lassen.« Der Kesselflicker zeigte wieder auf diese und wartete auf eine Reaktion seiner Zuhörer.
    »Und? Was ist dann passiert?«, wurde er von einem jungen Mann mit auffälligem Wuschelkopf gefragt, während dieser unauffällig am Stand des Obsthändlers einen Apfel klaute.
    »Während sich die Soldaten – mit Hellebarden bewaffnet – auf der Mauer rund um die Stadt postiert und vergeblich auf das vermeintliche Reiterheer gewartet haben, hat sich auch die Immenstädter Bevölkerung zur Verteidigung gerüstet. Die Frauen haben vorsorglich am Steigbach alle erdenklichen Gefäße mit Löschwasser gefüllt, während die Männer ihre Behausungen notdürftig dicht gemacht haben, nachdem sie den Soldaten geholfen hatten, die Stadttore zu verriegeln. Die Aristokraten haben sich mit ihrem angehäuften Vermögen in ihren brandfesten Steinhäusern verkrochen. Und der ärmere Teil der Stadtbevölkerung hat eben schauen müssen, wo er bleibt. Ihre Kinder sind in die Behausungen gebracht und die Tiere in die Stallungen getrieben worden. Sie alle hat eines vereint …« Da er es spannend machen wollte, schaute er wieder fragend in die Runde. »Sie haben Angst gehabt, weil sie mit großem Unheil durch ein fremdes Reiterheer gerechnet haben.«
    »Das aber nicht gekommen ist«, wusste ein Greis, der die Sache noch selbst miterlebt hatte.
    »Stimmt!«, bekräftigte der Kesselflicker die Aussage des alten Mannes, zu dem jetzt alle schauten. »Als die Immenstädter zwei Stunden lang kein Grollen mehr gehört haben, sind berittene Kundschafter in alle Himmelsrichtungen entsandt worden. Erst als die mutigen Reiter unbeschadet zurückgekommen sind und allesamt berichtet haben, dass im Norden bis Martinszell, in südöstlicher Richtung bis Fischen und im Westen bis zu uns nach Staufen heraus keine Spur eines Reiterheeres festzustellen war, hat man in Immenstadt den Alarmzustand aufgelöst. Obwohl die ganze Aktion überflüssig gewesen war, hat der junge Offizier vom Grafen als Dank für seine Umsichtigkeit eine versilberte und teilweise sogar goldbeschlagene Trabantenhelmbarte überreicht bekommen. Außerdem ist er zum Hauptmann befördert worden. Und zur Erinnerung daran, dass die Soldaten ihre Waffen nicht zum Einsatz bringen mussten, tragen sie heute noch die Hellebarde zur Schau

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