Die Pestspur
großen Kupfertopf rührte. Da rund um das Gefäß herum Flammen aus dem Herd emporzüngelten, musste die alte Frau höllisch aufpassen, sich nicht zu verbrennen. Die Szenerie wirkte gespenstisch – zumal das Licht vor ihr durch die krausen Haare leuchtete und dadurch ihren Kopf wie von einem Heiligenschein bekränzt wirken ließ.
»Keine Angst, Fremder, ich beschwöre nicht die Kreaturen der Finsternis herauf«, krächzte sie, ohne sich dabei umzudrehen.
Obwohl Kerzen derzeit kaum zu bekommen waren, brannten sie hier fast verschwenderisch.
»Ja, wir können es uns leisten, das Licht des Tages durch Kerzen und nicht durch die Flammen der Hölle zu ersetzen«, fuhr sie fort und rüttelte so fest am Topf, dass Funken nach oben stoben. »Wir halten auf unserem Hof einige Bienenvölker«, ergänzte sie noch, bevor sie sich langsam umdrehte und den Medicus mit zusammengekniffenen Augenlidern prüfte. »Seid Ihr nicht der Sohn vom alten Schwartz? … Und seid Ihr bei den ehrbaren Staufnern nicht in Ungnade gefallen?«, fragte sie den verdutzten Arzt unumwunden, ohne auf dessen Gefühle Rücksicht zu nehmen. Als sich der Medicus empört verteidigen wollte, fuhr ihm die Alte gleich wieder dazwischen: »Bleibt gelassen und sagt mir lieber, was Euch hierher führt und weswegen Ihr hier ungebeten eingetreten seid. Was ist Euer Begehr?«
Der Medicus war zwar noch nie hier gewesen, kannte die betagte Frau aber vom Hörensagen und vom Markt in Staufen. Obwohl er wusste, dass sie als weise galt, kam er ohne eine Begrüßung oder ein Wort der Entschuldigung zur Sache: »Ist Euer Sohn, der Kräutermann, hier?«
»Wer suchet, der findet. Aber seid gewarnt: Wenn sich’s begibt, dass zwei Ziegen einander begegnen auf einem schmalen Steg, der über ein Wasser geht, wie halten sie sich? Sie können nicht wieder hinter sich gehen, so mögen sie auch nicht nebeneinander hingehen, der Steg ist zu eng. Sollten sie denn einander stoßen, so möchten sie beide ins Wasser fallen und ertrinken. Wie tun sie es denn?«
Während die alte Frau auf die Antwort des verblüfften Besuchers wartete, schob sich eine kleine Wolke vor die Sonne und verdunkelte für einen Moment den unheimlich wirkenden Raum. Da dies dem Medicus irgendwie nicht gefallen mochte und er schnellstens wieder nach draußen wollte, rang er um eine passende Antwort. Das einfach wirkende Hutzelweib lachte krächzend auf. Es war ihr gelungen, dem siebengescheiten Herrn Studierten zu zeigen, worin die wahren Werte des Lebens lagen. Deswegen lieferte sie ihm – nachdem sie ihn hinreichend ausgelacht hatte – die Antwort frei Haus mit: »Die Natur hat ihnen gegeben, dass sich eine der beiden Ziegen niederlegt und lässt die andere über sich hingehen; also bleiben sie beide unbeschädigt. So sollte ein Mensch gegen den andern auch tun und auf ihm lassen mit Füßen gehen, ehe er mit einem andern sich zanken, hadern und kriegen sollte!«
Aber der Medicus war scheinbar doch nicht so dumm, wie er aussah. Nachdem er aufmerksam zugehört und die Häme der Alten über sich hatte ergehen lassen, fragte er nur: »Ihr seid eine Protestantin und verehrt offensichtlich die Worte Martin Luthers in besonderem Maße?«
»Nun geht!«, sagte die offensichtlich belesene Frau unwirsch, nachdem sie hatte feststellen müssen, dass sie durchschaut worden war. Sie zeigte zur Tür und wandte sich grußlos wieder ihrer Arbeit zu.
Im Freien mussten sich die Augen des Arztes wieder an das Tageslicht gewöhnen. Er rieb sie sich und blickte dann suchend in Richtung der Gartenanlagen. Als würde dies helfen, zog er seine Augen zu Schlitzen zusammen. Ein ganzes Weilchen durchstreifte er den Teil des Gartens, der mit etlichen Niedergewächsen bepflanzt war. Die Begeisterung über die vielen Heilpflanzen ließ den Akademiker, der durch sein Studium und von seinem Vater einiges darüber gelernt hatte, einen Moment den verdammungswürdigen Grund seines Besuches vergessen. Als er ein Stück weitergegangen war und gedankenverloren an einer Goldrute schnupperte, stolperte er fast über einen auf dem Boden knienden jungen Mann, der gerade damit beschäftigt war, ein auf Rupfen liegendes Büschel Kräuter mit einem Flachholz zu dreschen, was natürlich viel Staub aufwirbelte. Der Medicus musste zwar niesen, blieb aber höflich.
»Entschuldigung! – Wo ist der Kräutermann?«, fragte er den Burschen. Aber er bekam als Antwort nur ein unverständliches Stammeln zu hören. Davon irritiert, verabschiedete er sich
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