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Die Pestspur

Die Pestspur

Titel: Die Pestspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Wucherer
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schnell wieder und ging weiter.

    Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Vor ihm schien ein efeuumranktes Tor ins Nichts zu führen. Erst als er näher trat, sah er darüber ein Schild, dessen verschnörkelte Aufschrift er nur teilweise lesen konnte, obwohl es sich nur um ein einziges Wort handelte. Neugierig befreite er es vom rankenden Wildwuchs, der seinen Inhalt nur ungern freizugeben schien.
    »Labrys«, las er staunend. »Ein Labyrinth? … Hier?«
    Er konnte es kaum glauben, dass ausgerechnet hier in dieser Einöde ein von Menschenhand angelegter Kultplatz sein sollte. Wer durch dieses Tor ging, begab sich auf den Weg der Selbsterkenntnis, der das Innerste eines Menschen umzukrempeln vermochte. Irgendetwas zog ihn magisch an. Er würde jetzt gerne dort hineingehen und zur Ruhe kommen, alles abwerfen, was ihn bedrückte, und loslassen. Wie gerne würde er sein verpfuschtes Leben hinter sich lassen und neu anfangen. Er müsste nur durch das Tor gehen und die Mitte suchen, dort verweilen und sich so lange sortieren, bis die Erleuchtung über ihn kommen würde. Wenn er wieder herauskäme, hätte er Klarheit bekommen und Kraft gewonnen, sein Leben neu gestalten zu können.
    »Faszinierend!«, entfuhr es ihm.
    Die Neugierde ließ ihn zwar fast in diesen mystischen Ort eintreten, die Vernunft aber riet ihm davon ab. Immerhin befand er sich auf einem fremden Grundstück.
    Da hörte er eine sanfte Stimme hinter sich: »Ihr habt gut getan, nicht in das Heiligste einzutreten. Dies ist nur denjenigen gestattet, die reinen Herzens sind und deshalb auch wieder ohne Hilfe herausfinden.«
    Als der Medicus sich umdrehte, sah er einen verschmitzt dreinschauenden Typen, der durch seine merkwürdig anmutende Gewandung ein Orientale sein konnte. Dieser Eindruck wurde dadurch verstärkt, dass er auf seinem braunen Lockenkopf ein bunt gehäkeltes Mützchen trug. Über einer pludrigen Leinenhose schlabberte ein langes Leinenhemd. An einem Gürtel aus Hanf baumelten zu beiden Seiten mehrere Ledersäckchen. Es war Til, der Kräutermann, der jetzt direkt vor dem Medicus stand und ihn aus blitzenden Augen heraus musterte, bevor er mit ruhiger Stimme sagte: »Solltet Ihr reinen Herzens sein, könnt Ihr getrost dort hineingehen.« Der Kräutermann streckte eine Hand aus und wies dem Medicus den Weg, bevor er weitersprach: »Aber bedenkt zuvor, dass im Irrgarten der, der unreinen Herzens ist, umherirrt, und im Labyrinth der Pilger wandelt. Während der eine dem Glück auf der Spur zu sein glaubt, sucht der andere das Heil der Natur. Ihr allein entscheidet, ob Ihr einen Irrgarten oder ein Labyrinth betretet!«
    »Lasst es gut sein«, antwortete der Medicus kopfschüttelnd. »Ich bin nicht zu Euch gekommen, um Euer Heiligtum zu betreten.«
    Mit so einer Antwort hatte Til gerechnet. Der Kräutermann war zwar ein einfacher Bauer, verstand sich aber nicht nur auf hausgemachte Philosophie, sondern exzellent auf den Umgang mit Heilpflanzen der verschiedensten Art. Außerdem beherrschte er den richtigen Umgang mit Licht, Luft, Wasser, Wärme, Boden und Klima. Obwohl er nicht studiert hatte und niemals in einem Kloster oder gar auf einer Universität unterrichtet worden war, wusste er auch einiges über die Gestirne, eine adäquate Zusammenstellung der Lebensmittel sowie über die Rhythmisierung des Alltags durch den Wechsel von Bewegung und Ruhe. Dass dem Körper der Wechsel von Tagen, an denen mehr oder weniger Flüssigkeit zu sich genommen wurde, gut tat, hatte ihm einst ein Medicus, der sich auf Naturheilkunde verstand, bei einem seiner Besuche nähergebracht.
    »Wisst Ihr«, sagte er und forderte die Aufmerksamkeit des Arztes ein, »mittlerweile verfüge ich über ein ordentliches Wissen in Bezug auf natürliche Heilmethoden und könnte den vielen Scharlatanen und Kurpfuschern als reisender Heilkundiger ordentlich Konkurrenz machen. Aber viel lieber kümmere ich mich um meinen bescheidenen Kräutergarten und berate diejenigen, die reinen Herzens zu mir kommen.«
    Da der Medicus das mit dem ›reinen Herzen‹ nicht mehr hören konnte, verdrehte er die Augen, was ihn aber nicht davor bewahrte, dem Kräutermann weiter zuhören zu müssen. So erfuhr er, dass ihm dessen Wissen von seiner Mutter vermittelt worden war. Heute war sie zwar alt, kam gebückt daher und war froh, dass alle ›Kräuterweiblein‹ zu ihr sagten und sie nicht als Hexe verschrien war, sie hatte aber immer noch den Schalk im Nacken, was der Medicus bereits zu spüren

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