Die Pestspur
›Rodordnung‹ nur in liegenden Fässern transportiert werden und nicht länger als zwei Tage am Stück unterwegs sein durfte, weshalb an der ganzen Strecke entlang Salzstädel errichtet worden waren. Eine etappenweise Frachtsprengel-Aufteilung sorgte dafür, dass nur jeweils einheimische Fuhrleute auf dem ihnen zugewiesenen Streckenabschnitt Salz transportieren durften. Die Salzhändler waren dem sogenannten Stapelzwang verpflichtet. Das hieß, dass sie Salz nur in den hierfür vorgesehenen Ortschaften zwischenlagern durften. Das hinter dem Hahnschenkel liegende Simmerberg war so ein Ort. Obwohl es sich um ein kleines Nest mit nur sieben Häusern handelte, war es zurzeit der einzige Salzhandelsumschlagplatz zwischen Immenstadt und Lindau, also ein gefährdeter und gefährlicher Platz. Wenn die Salzfuhrwerke in Simmerberg ankamen und die kostbare Ladung unbeschadet geblieben war, warf der Fuhrmeister seinen Hut in die Luft und rief erleichtert: »Gottlob, wir sind am Ziel!« Erst dann überstellte er die Ware dem Salzfaktor, um sich gleich darauf in der dortigen Taverne den fürwahr süffigen ›Rödlertrunk‹, ein erfrischendes, bernsteinfarbenes Bier, schmecken zu lassen.
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Als der Medicus Hopfen entgegen ritt, gelobte er, es den Fuhrleuten gleichzutun und auf dem Rückweg die kleine Kapelle zu Füßen des steilen Anstieges zu besuchen. Der gottlose Arzt hatte zwar nicht vor zu beten, würde aber, wie schon viele andere Reisende vor ihm, ein kleines Dankesopfer in der Kapelle lassen. Nichts schien ihm gerade verlockender zu sein, als auf dem Kutschbock eines Salzfuhrwerks zu sitzen. Denn die Salzstraßenordnung Karls IV. aus dem Jahre 1360 besagte, dass die Fuhrleute verpflichtet waren, sich vor der Weiterfahrt zwei Tage in der Simmerberger Taverne zu erholen.
Kurz darauf sah er links vor sich den Einödhof des Kräuterweibleins und ihres Sohnes Tilman, den alle nur Til nannten oder, fast ehrfurchtsvoll, als ›Kräutermann‹ bezeichneten.
Der Medicus staunte nicht schlecht, als er seine Augen von der etwas höher gelegenen Straße über die großflächig angelegten Kräuterkulturen streifen ließ. Die botanischen Anlagen waren um ein Zentrum herum angelegt. Ein kutschbreiter Weg trennte das Bauernhaus von den schier endlos scheinenden Beeten.
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Vom Ross heruntergestiegen, lenkte ihn sein Weg zuerst ins Haus. Schon im Flur roch es nach allerlei Kräutern, deren einzelne Gerüche er nicht herauszufiltern vermochte. Ganze Büschel mitsamt den Wurzeln hingen zum Trocknen an Stangen, die längs des Flures an der Decke befestigt waren. An einer Seite lehnten Gestelle, die zu breit geratenen Leitern ähnlich sahen, an der Wand. Auf den Sprossen trockneten Blätter. Der Medicus nahm eines der Blätter und schnupperte daran.
»Scheiße!«, fluchte er und fuhr sich hastig übers Gesicht. In der Dunkelheit des Hausflurs hatte er nicht bemerkt, dass er sich ein Brennnesselblatt unter die Nase gerieben hatte, in dem noch etwas Leben war. »Brennnesseln – schlecht für mich, aber gut für die Nieren«, nahm er die Sache locker und sinnierte, ob er davon etwas erwerben und mitnehmen sollte, um daraus für sich eine Tinktur zu machen. Da er aber selbst keine Probleme beim Wasserlassen hatte und nicht beabsichtigte, jemandem bei der Erkrankung der Harnwege zu helfen, verwarf er diesen Gedanken wieder. Für einen Moment hatte es so ausgesehen, als hätte sich der Medicus von der Faszination, die von diesem schlichten Hausflur ausging, gefangen nehmen lassen und seine eigentliche Mission vergessen. Irgendwo ganz tief in seinem Innersten schien doch noch das Herz eines Arztes zu schlagen, der Menschenleben rettete, anstatt es ihnen – wie beabsichtigt – zu nehmen.
Vorsichtig arbeitete er sich zum Raum am Ende des Eingangsbereiches vor. Von dort drang ein spärliches Licht in den fensterlosen Flur. Außerdem hörte er Geräusche. Es war die Küche, in der sich der herbale Geruch verschiedener Kräuter mit dem süßen Duft von Bienenwachs vermischte und in die anderen Räume drang. Zusammen mit dieser kräftigen Duftmischung wirkte die fast unheimliche Atmosphäre des Ganzen auf den Medicus ein. Obwohl nur wenige Lichtstreifen durch ein kleines Schiebefensterchen fielen, war es hier ungewöhnlich hell.
Als sich die Augen des Arztes vom Dunkel des Hausflurs an die Helle dieses Raumes gewöhnt hatten, sah er eine Frau am Herd stehen, die – wie er zu erkennen glaubte – mit einem langen Holzlöffel in einem
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