Die Pestspur
vielleicht sogar der Leibarzt des Grafen sein könnte, erstarrte die in einfachen Verhältnissen aufgewachsene Schwester vor Ehrfurcht.
Während sie so überlegte, begann sie, den Inhalt des Rupfens genauer zu inspizieren.
Da sich zwischen den Pflanzen auch Zettelchen befanden, auf denen Schafgarbe, Kamille, Malve, Minze, Hagebutte oder andere Bezeichnungen heimischer Heilpflanzen zu lesen waren, wurde ihr nicht nur der Hergang der ruchlosen Tat, sondern auch der Ort des Geschehens klarer: Ihr Patient – der ihr trotz seines Schweigens und der Tatsache, dass er irgend etwas Unheimliches an sich hatte, in all den Tagen der Pflege ans Herz gewachsen war – musste in Hopfen gewesen und auf dem Rückweg das Opfer übler Gestalten geworden sein. Sie hatten ihm alles abgenommen, was sie für verwertbar gehalten hatten. Lediglich mit dem Pflanzensack hatten sie wohl nichts anzufangen gewusst. So hatten sie den armen Mann geschunden und aller Habseligkeiten beraubt. Nur den Rupfen mit dem wertlos erscheinenden Gestrüpp hatten sie ihm gelassen, und der Fuhrwerker, der den Verletzten aufgelesen hatte, hatte den Sack mitgenommen, um ihn dem Verletzten beim Transport unter den Kopf zu legen. Der große Blutfleck und die Delle in der Mitte des Sackes konnten dies bestätigen.
Bonifatia hob den Kopf zum Himmel und sagte dankbar: »Gott segne dich, unbekannter Kutscher!«
*
Mittlerweile war der Patient so weit genesen, dass er zwar noch starke Schmerzen an etlichen Teilen seines geschundenen Körpers verspürte, aber entlassen werden konnte. Dennoch ließ ihn die besorgte Schwester nur ungern gehen. Obwohl sie sich nicht ein einziges Mal mit ihm hatte unterhalten können, hatte sie ihm gegenüber Gefühle aufgebaut, die sie eigentlich nicht haben durfte.
Nur Gott allein weiß, warum er nicht reden möchte … oder kann. Vielleicht hat er ihm keine Stimme gegeben, damit wir uns nicht näher kommen können. Womöglich ist er ein Mann Gottes und hat ein Schweigegelübde abgelegt?
Letztendlich war die Schwester zu dem Schluss gekommen, dass ihr Patient ein heilkundiger Mönch eines Schweigeordens sein musste – zumindest könnten dessen Verhalten, sein beständiges Schweigen und der Sack mit den Heilkräutern darauf hinweisen. Dies war ein Grund mehr gewesen, ihn nicht zum Sprechen zu drängen. Dass ihr Patient diese Schweigetaktik gewählt hatte, um sich nicht zu verraten und dadurch womöglich das Interesse des rettenden Engels an ihm zu verstärken, konnte die grundehrliche Krankenschwester, der solche Dinge fremd waren, nicht ahnen.
*
Der Medicus wartete jetzt schon über eine Stunde auf dem Bänkchen vor dem Siechenhaus darauf, dass ihn ein vorbeikommendes Fuhrwerk mitnehmen und vielleicht sogar bis nach Staufen kutschieren würde. Während er so dasaß und vor sich hindöste, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Das kann nicht sein, dachte er, sah er doch den Schimmel des Totengräbers mitsamt Sattel und komplettem Zaumzeug auf der Wiese jenseits des kleinen Baches friedlich grasen. Als der Medicus aufstehen wollte, um zu dem Pferd zu gehen, knallte er auf den Boden.
»Um Gottes willen, was macht Ihr denn?«, rügte ihn Schwester Bonifatia, nachdem sie ihm entgegengeeilt war, um ihm aufzuhelfen. »Gut, dass Ihr auf Euren Sack gefallen seid. Dies hätte schlimm ausgehen können«, schimpfte sie und hob auch das reisefertig verschnürte Kräuterbehältnis auf.
Als der Medicus wieder auf dem Bänkchen saß und den ersten Schmerz verdaut hatte, zeigte er aufgeregt zur Wiese: »Schwester! … Seht doch: Mein Pferd!«
»Wo?« Da der Schwester nicht sofort aufgefallen war, dass ihr Patient doch sprechen konnte, folgte ihr Blick seinem Zeigefinger. Ihre Augen suchten die sumpfige Wiese entlang des sich gemächlich windenden Bächleins ab, konnten aber außer ein paar Fischreihern nichts entdecken.
Da das Pferd zwischenzeitlich ein Stück nach vorne gelaufen war, um direkt hinter der Siechenkapelle zu grasen, glaubte der Medicus, eine Wahnvorstellung gehabt zu haben, weswegen er enttäuscht und kraftlos in sich zusammensackte.
»Ihr seid immer noch nicht ganz genesen«, tröstete ihn Schwester Bonifatia, die vermutete, dass die Wunden am Kopf ihres Patienten nicht nur äußerlich waren. Allerdings hatte sie mittlerweile wahrgenommen, dass er gesprochen hatte. Also konnte sie sich jetzt mit ihm unterhalten. Ihr Herz begann, wie wild zu schlagen. »Ein Wunder«, murmelte sie irritiert, schalt sich aber sofort für
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