Die Peststadt
kochte allerorten in riesigen Kesseln, überall standen Körbe voller Pfeile und Speere, und all das Beutegut der letzten Nacht war verteilt worden. Aber auch an vielen Stellen sahen die Königin und er die frischen Gräber.
Sie befanden sich inzwischen auf der wasserabgewandten Seite der Stadtmauer, winkten den geschäftigen Verteidigern zu und ließen die Zügel auf die Rücken der Pferde klatschen. Eine neue Gasse tat sich vor ihnen auf.
»Es ist verdächtig ruhig«, sagte Mythor. »Auch im Lager der Caer. Mir scheint es fast leer zu sein, trotz der Rauchsäulen.«
Es war beinahe schon Mittag. Heute brannte die niedrig stehende Herbstsonne sogar. Bei jedem Tor waren Elivara und er auf die Mauer gestiegen und hatten lange Blicke ins Umland geworfen. Nirgendwo rührte sich etwas, an keiner Stelle sah man die Staubsäulen, die marschierende Truppen aufwirbeln mochten.
»Ich traue dieser Ruhe nicht. Aber noch verschafft sie allen eine mehr als wohlverdiente Pause«, gab Elivara zurück.
Ein Reiter kam ihnen entgegen. Kurze Zeit später erkannten sie Dhorkan, der den Arm in die Höhe streckte und winkte. Neben ihrem Gespann hielt er sein schäumendes Pferd an und rief: »Das Haus des Fürst-Richters ist leer. Seine Dienerinnen wissen von nichts. Sie haben auch keine Ahnung, wo Carbell sich befindet.«
»Er hat sich irgendwo in der Stadt verborgen«, sagte die Königin.
»Zweifellos. Wenn er nicht zu seinen Freunden, den Caer, übergelaufen ist. Es mag leicht sein, sich an einem Seil von der Mauer herunterzulassen«, gab Dhorkan zurück. »Es ist zu ruhig. Die Ruhe vor dem Sturm!«
Sie sahen sich in die Augen. Jeder von ihnen dachte dasselbe.
Aber soeben hatten sie gesehen, dass jeder Posten auf den Mauern besetzt und wachsam war. Die Caer konnten nicht wie Hagel aus der Luft fallen oder fliegen wie die Totenvögel. Auch Mythor war einen Augenblick lang ratlos und fragte schließlich: »Wo sind deine Männer, Dhorkan?«
»Sie sammeln sich, zusammen mit anderen, im Schloss bei Torm Shar.«
»Gut. Wir sind in einer Stunde dort. Dann beraten wir. Und wenn sie angreifen«, er deutete in Richtung des Hafens, »dann werden uns, denke ich, wieder die Hörner der Posten auf den Türmen rufen.«
»Das ist sicher«, entgegnete Dhorkan. »Trotzdem habe ich ein böses Gefühl kommenden Verderbens.«
»Damit bist du nicht allein«, sagte die Königin. »Seht zu, dass ihr trotzdem Fürst-Richter Carbell findet.«
Dhorkan grüßte und gab seinem Pferd die Sporen. Das Gespann rollte weiter und hielt am letzten Tor an.
Hier wie überall dasselbe Bild. Die Nyrngorer hatten begriffen, dass jeder von ihnen das Äußerste zu leisten hatte. Die Stadt durfte nicht fallen! Aber trotz des Jubels, der sich überall um Elivara erhob, erkannte Mythor die stille Furcht in den Augen der Stadtbewohner.
*
Kurz nach Mittag hatte sich der Nebel aufgelöst. Noch immer warteten die Verteidiger von Nyrngor auf ein Zeichen. Irgendein Zeichen, sei es eine Staubwolke oder eine waffenstarrende Schar von Caer-Kriegern, die aus dem Lager heranstürmten. Aber alles blieb unnatürlich ruhig. Alle erwachsenen Dandamaren innerhalb der Mauern fühlten diese Stille und begannen zu ahnen, dass der Tag fürchterlich enden würde. Es gab keinerlei wirkliche Anzeichen dafür, aber jedermann dachte und fühlte dasselbe. Zufällig hatten sie sich alle im Hof von Fordmore getroffen; jetzt standen sie in einer Gruppe um Königin Elivaras Gespann herum. Torm Shar blinzelte in der Sonne und sagte gerade: »... hundert und mehr Wächter. Sie sehen jede Ratte, die sich den Mauern nähert. Es ist heller Tag!«
»Jedenfalls sind wir wachsam«, bestätigte Dhorkan. »Und keiner in der Stadt hat Carbell gesehen.«
Mythor und Sadagar wechselten kein Wort miteinander. Die Betroffenheit Mythors würde bald vergehen, sagte sich der Messerwerfer, und Mythor würde einsehen, dass Fahrna ihren Tod geradezu herausgefordert hatte.
»Ich ahne, dass der Fürst-Richter nicht aufhören wird, uns zu verraten«, meinte Elivara nachdenklich. »Schon mein Vater sagte mir, dass er leicht zu beeinflussen sei.«
»Selbst der redlichste Mann wird verdorben, wenn ihn die Caer-Priester in ihrer Gewalt haben«, versuchte Mythor eine Erklärung.
»Richtig!« pflichtete ihm Shar bei. »Ich bin auch zu beeinflussen und noch immer nicht ein Opfer der Caer-Priester und ihrer Dämonen!«
»Sei glücklich darüber!« warnte Sadagar. »Und gehe ihnen in großem Bogen aus dem Weg.«
»Ich
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