Die Pfade des Wanderers
mußte Jon-Tom schwer schlucken und sich abwenden. Während ihrer zahlreichen Reisen hatte Mudge schon die absurdesten Dinge getan, sinnlose, bis zu einem gewissen Grad sogar widerliche Dinge, aber das hier... Er versuchte das Bild aus dem Geist zu verbannen, während er nachdachte, was er als nächstes tun sollte.
Clodsahamp war der einzige, der noch so aussah, als sei er wenigstens halbwegs bei Sinnen. Jon-Tom trat auf den Hexer zu und legte ihm eine Hand auf den Arm. Dann schüttelte er ihn kräftig.
»Aufwachen! Ich weiß zwar nicht, wo Sie gerade sind, aber jedenfalls sind Sie nicht dort, wo Sie sind. Bitte, Clodsahamp, antworten Sie mir!«
Der Hexer mißachtete ihn. Jon-Tom versuchte sich genau daran zu erinnern, wie er selbst in die Realität zurückgekehrt war, um dann die Finger auf eben dieselbe Weise auf die Duar zu legen. Mit einem tiefem Atemzug ließ er ein paar Akkorde erklingen, ohne im geringsten zu wissen, was er da möglicherweise spielte.
Es hörte sich nicht sehr angenehm an, doch das gehörte vielleicht dazu. Der Hexer blinzelte, genau wie Jon-Tom geblinzelt hatte. Dann nahm seine Miene einen erstaunten Ausdruck an.
»Was... wer ist das... wie?« Schließlich richtete er den Blick auf Jon-Tom, der über ihm aufragte und besorgt dreinblickte.
»Oh, du bist es, mein Junge! Was ist denn los?«
»Clodsahamp, wo sind Sie? Wo sind Sie jetzt, in diesem Augenblick?«
»Jetzt? In der Bibliothek natürlich! In der großen Bibliothek. Welch ein Wunder! Ich bin auch so froh, daß du sie ebenfalls gefunden hast, mein Junge. Denn in den vielen vor mir liegenden Jahren brauche ich jede Hilfe.« Er zeigte ihm den verwitterten Steinsplitter, den er in der Hand hielt. »Schau mal, ich habe sogar schon den Schlüssel zu allem gefunden! Das ist die erste Seite des Registers, ganz deutlich definiert, man braucht nur hinzusehen, und selbst Nichteingeweihte haben keine Schwierigkeiten, es zu lesen.« Er wedelte mit dem Stein auf etwas, das vor ihm lag. Doch auf halbem Wege hielt er mitten in der Bewegung inne, um wie gelähmt geradeaus zu starren.
»Clodsahamp, sind Sie in Ordnung?«
Wieder ein Augenblick des Schweigens, gefolgt von einem resignierten Flüstern. »Es gibt hier gar keine Bibliothek, nicht wahr?«
»Nein.« Der Gesichtsausdruck des Hexers war herzzerreißend. »Es tut mir leid. Es war eine Illusion. Ich habe etwas ähnliches erlebt. Ich weiß immer noch nicht, ob ich da herausgekommen bin, weil ich es zugelassen oder weil ich zufällig auf der Duar die richtigen Töne angeschlagen habe.«
»Keine Illusion, mein Junge.« Der Schildkröterich schluckte schwer. »Eine Störung. Wieder eine verdammte, verfluchte, trügerische Störung. Dann hast du sie also nicht gesehen? Die Bibliothek?«
»Nein. Meine Illusion war anders. Ich stand auf einer Bühne, spielte, auf dem Höhepunkt meiner Laufbahn. Ein schöner Traum. Die Erfüllung aller meiner Herzenswünsche. Ich besaß alles, was ich mir jemals gewünscht habe.«
»Ich ebenfalls. Diesmal hat die Störung unser innerstes Selbst angezapft, um ihr Spielchen mit uns zu treiben.« Er blickte auf die Steinscherbe hinab und warf sie gereizt beiseite. »Wir sind Narren.«
»Nein, genarrt zu werden, macht uns noch lange nicht zu Narren. Der Wanderer kann Genies ebenso beeinflussen wie Idioten.«
Clodsahamp lächelte ihn von unten herauf an. »Du versuchst mich aufzuheitern, mein Junge. Es funktioniert zwar nicht, aber ich weiß es zu schätzen. Hilf mir auf!« Das tat Jon-Tom. Dann ließ der Hexer seiner Verärgerung auf eine Weise freien Lauf, wie Jon-Tom es noch nie miterlebt hatte. Clodsahamp wurde oft wütend auf andere, besonders auf Sorbl. Doch niemals auf sich selbst. Deshalb verstand Jon-Tom auch, wie enttäuscht der Hexer sein mußte, als er dem Stein einen gewaltigen Tritt verpaßte und ihn den Weg entlangschleuderte.
»Jetzt fühle ich mich besser. Mein Fuß zwar nicht, aber dafür der Rest. Ich war in einer Bibliothek, mein Junge. In einer Bibliothek, wie es sie niemals gegeben hat. In ihren Regalen befand sich alles Wissen über alles, was es gibt, was es jemals gab und jemals geben würde. Eine Bibliothek der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Zwischen ihren Mauern waren alle Antworten enthalten. Das ist es, wovon ich träumte, was ich mein ganzen Leben haben wollte, mein Junge. Ein bißchen Weisheit und ein paar Antworten. Es ist nicht schön, von einem Phänomen der Unnatur reingelegt zu werden.« Er seufzte schwer. »Was
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