Die Pfeiler der Macht
der Kleine tieftraurig.
»Spinnen leben gar nicht so gerne in Streichholzschachteln. Vielleicht solltest du dir lieber ein anderes Haustier aussuchen. Wie wär's mit einem Kanarienvogel?«
Unvermittelt hellte sich Sams Miene wieder auf. »Bekomme ich einen?«
»Du mußt dafür sorgen, daß er regelmäßig zu fressen und zu trinken bekommt. Sonst stirbt er.«
»Versprochen! Ganz bestimmt!«
»Dann werden wir uns morgen mal nach einem umsehen.«
»Hurra!«
In geschlossenen Kutschen fuhren sie zur Methodist Hall in Kensington. Es goß in Strömen. Die drei Buben hatten noch nie an einer Beerdigung teilgenommen. Toby, der ein ziemlich ernstes Kind war, fragte: »Sollen wir eigentlich weinen?«
»Spar dir deine dummen Fragen!« raunzte Nora. Es war nicht das erste Mal, daß Hugh sich wünschte, seine Frau würde mit den Jungen etwas liebevoller umgehen. Noras Mutter war gestorben, als ihre Tochter noch ein Baby war. Wahrscheinlich lag es daran, daß es Nora nun so schwerfiel, den eigenen Kindern eine gute Mutter zu sein ... Sie könnte sich wenigstens ein bißchen mehr Mühe geben, dachte Hugh und wandte sich an Toby. »Wenn dir danach ist, darfst du ruhig weinen. Bei Beerdigungen ist das erlaubt.«
»Dann lass' ich's lieber bleiben. Ich hab' Onkel Joseph nie besonders gern gehabt.«
»Ich hab' Billy, den Spinnerich, gern gehabt«, murmelte Sam. Und Sol, der Kleinste, verkündete vorlaut: »Ich bin schon zu groß, um zu heulen.«
Die Methodist Hall in Kensington war ein steingewordenes Symbol für die ambivalente Lebensauffassung der wohlhabenden Methodisten. Einerseits glaubten sie an religiöse Schlichtheit und Schnörkellosigkeit, andererseits drängte es sie insgeheim, ihren Wohlstand zur Schau zu stellen. Obwohl das Gebäude lediglich die bescheidene Bezeichnung »Versammlungshalle« führte, war es nicht minder prunkvoll ausgestattet als ein anglikanisches oder katholisches Gotteshaus. Ein Altar fehlte, aber es gab eine prächtige Orgel. Bilder und Statuen waren verpönt, doch die Architektur bezeugte barocke Üppigkeit. Die Gesimse und Verzierungen waren äußerst kunstvoll und erlesen gestaltet.
An diesem Vormittag war das Gebäude bis auf den letzten Stehplatz gefüllt. Die Trauergäste drängten sich auf den Emporen und in den Gängen. Die Angestellten der Bank hatten einen Tag freibekommen, um an der Trauerfeier teilnehmen zu können. Darüber hinaus hatten alle bedeutenden Finanzinstitute der City ihre Vertreter geschickt. Hugh nickte dem Gouverneur der Bank of England, dem Schatzkanzler und Ben Greenbourne zu. Letzterer hatte mittlerweile die Siebzig überschritten, hielt sich aber nach wie vor kerzengerade wie ein junger Gardist. Die Familie wurde zu den für sie reservierten Sitzen in der ersten Reihe geleitet. Hugh setzte sich neben seinen Onkel Samuel, der, wie immer, wie aus dem Ei gepellt aussah. Er trug einen schwarzen Gehrock, einen Eckenkragen und eine modisch geknotete Seidenkrawatte. Wie Greenbourne war auch Samuel inzwischen über siebzig, und wie dieser erfreute er sich bester Gesundheit und ungebrochener geistiger Regsamkeit.
Samuel war nach Josephs Tod zweifellos der erste Anwärter auf den Posten des Seniorpartners. Er war der älteste und erfahrenste unter den Teilhabern. Allerdings haßte Augusta ihn ebenso wie er sie, weshalb von ihrer Seite mit verbissenem Widerstand zu rechnen war. Wahrscheinlich würde sie sich für Josephs inzwischen zweiundvierzigjährigen Bruder William einsetzen. Von den übrigen Teilhabern kamen zwei von vornherein nicht in Frage, weil sie nicht den Namen Pilaster trugen: Major Hartshorn und Sir Harry Tonks, der Ehemann von Josephs Tochter Clementine. Damit blieben noch Hugh und Edward. Hugh wäre sehr gerne Seniorpartner geworden, ja, er begehrte diese Stellung von ganzem Herzen. Er war zwar der jüngste im Kreis der Teilhaber, stach sie aber von der fachlichen Qualifikation her bei weitem aus. Er wußte genau, wie er die Bank größer und stärker denn je machen und gleichzeitig die Abhängigkeit von riskanten Krediten, auf die sich Joseph eingelassen hatte, reduzieren konnte. Das Problem bestand darin, daß Augusta seine Bewerbung noch heftiger bekämpfen würde als eine eventuelle Beförderung Samuels. Andererseits konnte er seinen Anspruch auf die Führungsposition nicht zurückstellen, bis Augusta alt oder tot war. Sie war erst achtundfünfzig - also war gut und gerne noch fünfzehn Jahre mit ihr zu rechnen. Ihre Energie war allem Anschein nach
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