Die Pfeiler der Macht
verabschiedeten, gab Maisie seine Hände nicht frei und sagte: »Komm mit zu mir nach Hause.«
Traurig schüttelte er den Kopf.
»Wir lieben uns. Wir lieben uns schon so lange!« Es war wie ein Flehen. »Komm doch mit! Zum Teufel mit den Konsequenzen!«
»Aber das Leben besteht aus lauter Konsequenzen, oder?«
»Hugh! Bitte!«
Er entzog ihr seine Hände und trat einen Schritt zurück. »Lebwohl, liebe Maisie.«
Sie starrte ihn hilflos an. Eine jahrelang unterdrückte Sehnsucht ergriff von ihr Besitz. Wäre sie stark genug gewesen, so hätte sie ihn einfach gepackt und mit Gewalt in die Droschke gezogen. Es war zum Verrücktwerden ...
Sie hätte ewig dort ausgeharrt. Aber Hugh nickte dem Kutscher zu und sagte: »Fahren Sie los!«
Der Mann gab dem Pferd die Peitsche, und die Räder begannen sich zu drehen. Einen Augenblick später war Hugh nicht mehr zu sehen.
Hugh schlief sehr schlecht in dieser Nacht. Immer wieder wachte er auf, dachte an Maisie und rekapitulierte in Gedanken das Gespräch mit ihr. Warum habe ich nicht nachgegeben? dachte er. Warum bin ich nicht mit ihr nach Hause gegangen? Anstatt mich schlaflos im Bett herumzuwälzen, könnte ich jetzt in ihren Armen liegen und meinen Kopf an ihre Brüste schmiegen ... Aber da war noch etwas anderes, was ihn beschäftigte. Er hatte das Gefühl, daß sie irgend etwas Folgenschweres, etwas Überraschendes und Bedrohliches erwähnt hatte, dessen Bedeutung ihm nicht sogleich aufgegangen war. Doch es fiel ihm immer noch nicht ein.
Sie hatten über die Bank gesprochen, über Edwards bevorstehende Beförderung zum Seniorpartner und über seinen Titel. Von Emilys Absicht, die Annullierung der Ehe anzustreben, war die Rede gewesen, von der Beinahe-Liebesnacht in Kingsbridge Manor, vom Widerstreit zwischen dem Streben nach Rechtschaffenheit und Glück .. Worin bestand die folgenschwere Enthüllung?
Er versuchte, das Gespräch in umgekehrter Reihenfolge nachzuvollziehen. Komm mit zu mir nach Hause ... Die Menschen sollten ihr Glück beim Schopfe packen! ... Emily wird Edward um die Annullierung der Ehe bitten ... Die arme Emily ist jetzt Lady Whitehaven ... Ist dir klar, daß Bertie einen Erbanspruch auf den Titel hätte, wenn es mit rechten Dingen zugegangen und Ben Greenbourne geadelt worden wäre? ... Nein, er hatte etwas ausgelassen. Edward trug nun den Titel, der eigentlich Ben Greenbourne gebührte. Augusta hatte dafür gesorgt. Sie steckte hinter der schmutzigen Pressekampagne. Hugh hatte das nicht gewußt. Ich hätte es zumindest vermuten können, dachte er. Der Prinz von Wales hatte es jedenfalls irgendwie erfahren - und er hatte Maisie und Solly eingeweiht. Ruhelos warf sich Hugh auf die andere Seite. Was soll daran so folgenschwer sein? dachte er. Es ist lediglich ein weiteres Beispiel für Augustas Skrupellosigkeit, sonst nichts ... Es war damals nicht ans Licht gekommen. Aber Solly wußte Bescheid ... Unvermittelt setzte sich Hugh im Bett auf und starrte in die Dunkelheit.
Solly wußte Bescheid.
Wenn Solly wirklich erfahren hatte, daß die Pilasters für die rassistische Hetzkampagne gegen seinen Vater verantwortlich waren, dann hätte er alle Geschäftsverbindungen mit dem Bankhaus Pilaster abgebrochen. Und als erstes wäre er zu Edward gegangen und hätte die Sache mit der Santamaria-Bahn platzen lassen. Edward aber hätte sofort Micky Miranda eingeweiht ...
»O mein Gott«, sagte Hugh laut.
Die Frage, ob Micky, von dem er ja wußte, daß er sich zum Zeitpunkt des Geschehens irgendwo in der Nähe herumgetrieben hatte, etwas mit dem Tod Sollys zu tun haben könnte, beschäftigte ihn schon lange. Nur hatte er sich nie ein plausibles Motiv vorstellen können. Bisher war er immer davon ausgegangen, daß Solly damals den Santamaria-Vertrag unterzeichnen wollte, womit Micky am Ziel seiner Wünsche gewesen wäre. In diesem Fall mußte ihm an einem lebendigen Solly sehr gelegen sein. Doch wenn Solly das Geschäft hatte platzen lassen wollen? Dann wäre es durchaus möglich, daß Micky ihn umgebracht hat, nur um den Vertrag zu retten. War also Micky der gutgekleidete Herr, der mit Solly gestritten hatte, kurz bevor der überfahren wurde? Der Kutscher hatte immer behauptet, daß Solly vor die Kutsche gestoßen worden sei. War das Micky gewesen? Die Vorstellung war ebenso erschreckend wie abstoßend.
Hugh stieg aus dem Bett und drehte die Gaslampe an. In dieser Nacht war an Schlaf nicht mehr zu denken. Er zog sich einen Morgenmantel über und
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