Die Pfeiler der Macht
unausweichlich geworden, an der Augusta zweifellos Gefallen gefunden hätte. Aber Emily war zu gewieft, um sich auf einen offenen Streit einzulassen. »Es ist dein Zuhause«, sagte sie mit freundlichem Lächeln. »Du kannst hier tun und lassen, was du willst.« Ihre herablassende Art allein reichte aus, Augusta zusammenfahren zu lassen. Emily trug sogar Augustas Titel: Als Ehefrau Edwards war sie jetzt die Gräfin von Whitehaven, während Augusta als »Gräfinwitwe« galt. Obgleich sie nun nicht mehr die erste Dame des Hauses war, ließ Augusta es sich nicht nehmen, das Personal wie in alten Zeiten herumzukommandieren. Sie nutzte jede sich bietende Gelegenheit, Emilys Anweisungen zu hintertreiben. Während Emily sich darüber nie beklagte, verhielten sich die Hausangestellten zunehmend subversiv. Emily war ihnen lieber als Augusta, und so fanden sie Mittel und Wege, ihr das Leben, allen Querschüssen der Gräfinwitwe zum Trotz, recht angenehm zu gestalten. Augusta meinte, dies läge nur an der geradezu törichten Nachsicht, mit der Emily die »Domestiken« behandele. Die wirksamste Waffe, die die Herrschaft gegen das Personal einsetzen konnte, bestand in der Androhung einer Entlassung ohne Charakterzeugnis, das Voraussetzung für jede Neueinstellung war. Emily hatte Augusta diese Waffe mit verblüffender Unbefangenheit aus der Hand genommen: Sie hatte zum Lunch Seezunge bestellt, Augusta dagegen Lachs. Als Seezunge serviert wurde, entließ Augusta die Köchin, worauf Emily der guten Frau ein großartiges Zeugnis schrieb und ihr damit zu einer erheblich besser dotierten Anstellung beim Herzog von Kingsbridge verhalf. Nach diesem Vorfall verloren die Hausangestellten zum erstenmal ihre Angst vor Augusta.
In den Nachmittagsstunden pflegten Emilys Freundinnen und Bekannte vorbeizuschauen. Die Teestunde war ein Ritual, dem traditionsgemäß die Hausherrin vorsaß. Emily bat dann Augusta mit einem entzückenden Lächeln, ihren Platz einzunehmen, was zur Folge hatte, daß Augusta gezwungen war, Emilys Gäste mit ausgesuchter Höflichkeit zu behandeln - und das fiel ihr fast genauso schwer, wie mit ansehen zu müssen, daß Emily die Rolle der Hausherrin übernahm.
Abends beim Dinner war es noch schlimmer. Augusta saß am Kopf des Tisches, doch jeder wußte, daß dieser Platz Emily zukam. Einmal hatte ein ungehobelter Gast sogar geäußert, daß es gütig von Emily sei, ihrer Schwiegermutter in dieser Form ihren Respekt zu erweisen.
Augusta sah sich nach Strich und Faden ausmanövriert, was eine völlig neue Erfahrung für sie bedeutete. Als äußerstes Druckmittel drohte sie ihren Mitmenschen für gewöhnlich die Verbannung aus ihrem Freundeskreis an. Doch Emily war damit nicht einzuschüchtern, denn die Verbannung war genau das, was sie wollte. Um so mehr wuchs Augustas Entschlossenheit, unter keinen Umständen nachzugeben.
Bald lud man Edward und Emily zu Gesellschaften und Festen ein, und Emily ging hin, ganz gleich, ob Edward sie begleitete oder nicht. Langsam wurde man auf die beiden aufmerksam. Solange Emily sich in Leicestershire verkrochen hatte, war es möglich gewesen, über die Entfremdung zwischen ihr und ihrem Ehemann hinwegzusehen. Doch nun, da beide in der Stadt lebten, wurde die Sache allmählich peinlich.
Es hatte einmal eine Zeit gegeben, zu der Augusta die Ansichten der High Society gleichgültig gewesen waren. Das entsprach der Tradition der Kaufmannschaft, die die Aristokratie für oberflächlich und frivol, wenn nicht sogar für degeneriert hielt und ihre Ansichten ignorierte oder das zumindest vorgab. Von jenem schlichten Bürgerstolz war bei Augusta unterdessen nicht mehr viel übriggeblieben. Als Gräfinwitwe von Whitehaven gierte sie nach der Anerkennung der Londoner Elite. Daß ihr Sohn die Einladungen aus den besten Kreisen am liebsten ablehnte, konnte sie nicht zulassen, und so zwang sie ihn eben dazu, ihnen zu folgen.
Auch an diesem Abend fand eine solche Veranstaltung statt. Anläßlich einer Oberhausdebatte weilte der Marquis von Hocastle in London. Seine Frau, die Marquise, hatte die wenigen Herrschaften aus ihrem Freundeskreis, die sich nicht irgendwo auf dem Land mit Jagen und Schießen vergnügten, zu einem festlichen Dinner geladen. Edward und Emily gehörten ebenso dazu wie Augusta, und alle drei hatten die Einladung angenommen. Doch als Augusta im schwarzen Seidenkleid die Treppe herunterrauschte, erblickte sie Micky Miranda. Er saß im Salon, hielt ein Whiskyglas in der Hand und
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