Die Pfeiler der Macht
steht draußen. Ich bring' dich zum Bahnhof.«
In der Kutsche fiel ihnen ein, daß sie keine Ahnung hatten, an welchem Londoner Bahnhof die Züge nach Chingford abfuhren. Der Kutscher - er war auch Türsteher bei Nellie's - wußte glücklicherweise Bescheid und brachte sie zur Liverpool Street Station.
Mit einem flüchtigen Dankeschön verabschiedete sich Maisie von April und eilte in das Bahnhofsgebäude, in dem sich neben unzähligen Weihnachtsurlaubern viele Menschen drängten, die in der Stadt ihre letzten Einkäufe vor dem Fest erledigt hatten und nun in die Vororte zurückstrebten. Die Luft war voller Rauch und Ruß. Vor dem Hintergrund kreischender Stahlbremsen und dem explosionsartigen Entweichen von Dampf aus den Schloten der Lokomotiven flogen Weihnachtswünsche und Abschiedsgrüße hin und her. Maisie zwängte sich durch die Trauben von mit Taschen und Paketen beladenen Frauen, vorbei an Melone tragenden Angestellten, die vorzeitig Feierabend machen durften, zwischen Lokomotivführern und Heizern mit rußgeschwärzten Gesichtern hindurch, an Kindern, Pferden und Hunden vorbei, bis sie endlich den Fahrkartenschalter erreicht hatte.
Bis zur Abfahrt des Zuges blieben ihr fünfzehn Minuten Wartezeit. Auf dem Bahnsteig beobachtete sie, wie sich ein junger Mann und seine Geliebte tränenreich voneinander verabschiedeten. Sie beneidete die beiden.
Der Zug stampfte durch die Slums von Bethnal Green, durch Walthamstow und die verschneiten Felder von Woodford. Alle paar Minuten hielt er an. Obwohl er doppelt so schnell fuhr wie eine Pferdekutsche, kam er Maisie, die an ihren Fingernägeln kaute und um Hughs Wohlergehen bangte, ungeheuer langsam vor.
Beim Verlassen des Zuges in Chingford wurde sie von der Polizei angehalten und in den Wartesaal gebeten. Ein Inspektor fragte sie, ob sie am Morgen von Chingford aus in die Stadt gefahren sei. Man suchte offensichtlich noch Tatzeugen. Nein, erwiderte sie, sie sei überhaupt zum erstenmal in Chingford. Dann fragte sie aus einer spontanen Eingebung heraus: »Gab es - außer Mr. Silva - noch andere Opfer?«
»Zwei Personen erlitten bei dem Vorfall kleinere Abschürfungen und Prellungen.«
»Ich mache mir Sorgen um einen Freund von mir, der mit Mr. Silva bekannt war. Sein Name ist Hugh Pilaster.«
»Mr. Pilaster kämpfte mit dem Täter und erhielt einen Schlag auf den Kopf«, sagte der Inspektor. »Ernsthafte Verletzungen hat er aber nicht davongetragen.«
»Gott sei Dank!« sagte Maisie. »Können Sie mir sagen, wo er wohnt?«
Der Inspektor nannte ihr den Weg. »Mr. Pilaster war heute vormittag bei Scotland Yard. Ob er schon zurück ist, kann ich Ihnen leider nicht sagen.«
Da sie nun mit einiger Sicherheit davon ausgehen konnte, daß Hugh wohlauf war, erwog Maisie, mit dem Gegenzug nach London zurückzufahren; immerhin bliebe ihr so eine Begegnung mit der gräßlichen Nora erspart. Aber irgendwie war es ihr doch lieber, Hugh persönlich zu sehen und zu sprechen. Und Angst hatte sie vor Nora keine.
Sie machte sich auf den Weg. Der Schnee, durch den sie stapfte, lag inzwischen schon sechs oder sieben Zentimeter hoch. Einen krasseren Gegensatz zu Kensington kann man sich kaum vorstellen, dachte Maisie, als sie die neue Straße mit den billigen Reihenhäusern und unfertigen Vorgärten entlangging. Hugh nahm seinen Abstieg vermutlich mit stoischer Ruhe hin. Bei Nora dagegen war sie sich nicht so sicher. Das Luder hatte Hugh des Geldes wegen geheiratet - da konnte ihr die neuerliche Armut kaum behagen.
Als sie an die Tür klopfte, konnte Maisie im Haus ein Kind weinen hören. Ein etwa elfjähriger Junge öffnete. »Du bist Toby, nicht wahr?« sagte sie. »Ich bin Mrs. Greenbourne. Ich wollte deinen Vater besuchen.«
»Es tut mir leid, aber mein Vater ist nicht zu Hause«, erwiderte der Junge höflich. »Wann erwartest du ihn zurück?«
»Ich weiß es nicht.« Maisie war niedergeschlagen. Sie hatte sich so darauf gefreut, Hugh zu sehen. Enttäuscht sagte sie: »Vielleicht könntest du ihm sagen, daß ich die Zeitung gelesen habe und nachsehen wollte, ob es ihm gutgeht.«
»Ja, gerne, ich werd's ihm ausrichten.«
Mehr gab es nicht zu sagen. Was soll ich hier noch? fragte sich Maisie. Am besten gehe ich wieder zum Bahnhof und fahre mit d e m nächsten Zug zurück. Sie wandte sich zum Gehen. Immerhin war ihr eine Auseinandersetzung mit Nora erspart geblieben.
Spontan drehte sie sich noch einmal um und fragte Toby: »Ist deine Mutter da?«
»Nein, es tut mir leid
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