Die Pfeiler des Glaubens
Meister weilte inzwischen in Viso, wo er im Auftrag von Don Álvaro de Bazán – dem Marquis von Santa Cruz – in dessen Palast malte. Der Künstler hatte sein großartiges Werk in der Capilla del Sagrario in der Kathedrale beendet – und für Hernando blieb die Gestalt, die beim heiligen Abendmahl Jesus umarmte, rätselhaft.
»Kämpfe für deine Sache, Hernando!« Mit diesen Worten hatte ihn der Meister bei ihrem Abschied ermutigt.
Aber wie sollte man gegen diesen unheilvollen Vorschlag des Bischofs vorgehen?
»Verdammte Heuchler!«, rief er in die einsame Bibliothek.
Heuchler! Genau als solchen hatte Arbasia den spanischen Monarchen bezeichnet.
»Euer ach so frommer König ist nichts anderes als ein Heuchler. Nur wenige Menschen wissen«, hatte er freimütig berichtet, »dass König Philipp eine Serie erotischer Gemälde besitzt, die er beim großen Meister Tizian höchstpersönlich in Auftrag gegeben hat. Ich hatte in Venedig Gelegenheit, eines davon betrachten zu können. Auf dem Gemälde klammert sich die nackte Venus wollüstig an Adonis, und es gibt noch andere Bilder, die Tizian für den christlichen Monarchen anfertigte, auf denen nackte Göttinnen in verschiedenen Positionen zu sehen sind. › Damit Eure Freude bei ihrem Anblick noch größer ist ‹ , hatte der Meister dem König geschrieben. Niemals würde sich eine brave Christin so auf ihren Gemahl stürzen wie diese Venus.« Hernando erinnerte sich plötzlich an Isabel. »Woran denkst du?«, fragte der Maler, als er ihn so in Gedanken vertieft sah.
»Ich dachte nur an die Christinnen«, entschuldigte er sich, »an ihre Situation.«
»Aber ihr habt doch auch keine große Meinung von den Frauen. Sie sind eure Gefangenen, die nichts allein tun dürfen. Sagte das nicht euer Prophet?«
»Schon«, fuhr Hernando nach einer Weile fort, »doch beide Religionen weisen den Frauen einen besonderen Platz zu. Darin ähneln wir uns. Selbst bei der Jungfrau Maria gibt es Gemeinsamkeiten: Christen und Muslime, wir alle verehren sie in ähnlicher Weise. Aber anscheinend hilft es nicht, bei dieser einen Frau einer Meinung zu sein, selbst wenn sie die Mutter von Jesus ist …«
Hernando blieb mitten in der Palastbibliothek abrupt stehen. Natürlich! Die Jungfrau Maria! Ja, sie stellte tatsächlich ein Bindeglied zwischen Christen und Muslimen dar. Warum mühte sich Luna damit ab, die Güte der arabischen Eroberer im Umgang mit den Christen zu beweisen? Es gab doch ein viel besseres Argument! Das Barnabas-Evangelium stimmte schließlich darin mit den von den Päpsten manipulierten und von den Christen als echt betrachteten Evangelien überein. Warum vermittelte man nicht mithilfe der einzigen Gestalt, über die sich alle einig zu sein schienen, zwischen den beiden Religionen? Ganz Spanien erlebte schließlich derzeit eine Phase der Marienverehrung, die schon an Fanatismus grenzte. Beständig wurde Rom aufgefordert, die Unbefleckte Empfängnis von Maria zum Dogma zu erklären. Nicht einmal Gott – der Gott beider Religionen: der Gott Abrahams – führte zu einem versöhnlichen Miteinander. Die Christen hatten ihn mit ihrer Lehre von der Heiligen Dreifaltigkeit abgewertet.
Hernando konnte sich einige Tage kaum auf seine Arbeit konzentrieren. Den Bericht über die Gräueltaten in Juviles hatte er längst nach Granada gesandt, und zu seiner Überraschung – denn er ging davon aus, dass man nach der Lektüre des Berichts auf seine Zusammenarbeit verzichten werde – lag ihm nun die Bitte des Domkapitels vor, die Ereignisse von Cuxurio zusammenzufassen, dem Ort, wo Ubaid Gonzalicos Herz herausgerissen hatte. Wie ließen sich solche Grausamkeiten entschuldigen? Dort hatte kein Moriskenführer die Bluttat verhindert. Hernando legte seine Abschrift des Barnabas-Evangeliums sowie die Notizen für Luna zur Seite und wandte sich seinen kalligraphischen Übungen zu. Er hatte geeignetes Röhricht gefunden, aus dem er die Schreibrohre fertigen konnte. Wie es Ibn Muqla empfahl, schrägte er die Spitze leicht nach rechts an, aber noch fiel es ihm schwer, genau den Punkt zu finden, an dem er den Schnitt ansetzen musste. Immer wenn er Volador morgens zwischen den Korkeichen auf den Weiden vor der Stadt grasen ließ, lehnte er sich an einen Baum und kürzte die Rohre, die er später in der Bibliothek ausprobieren wollte.
Aber auch die Kalligraphie konnte heute seine Sehnsüchte nicht stillen. Er war nicht in der Verfassung, sich Gott über die Schrift anzunähern. Seit dem
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