Die Pfeiler des Glaubens
wiederfand.
»Vom Jurado?«, fragte er verblüfft.
»Ja. Das ist ein gutes Geschäft. Der Jurado ist Mitglied der Bruderschaft, die sich um die Findelkinder kümmert und darüber entscheidet, wo sie aufgezogen werden. Die Kinder kommen in Córdoba zu Ammen, wenn sie noch Säuglinge sind, oder zu anderen Frauen, die ihnen zu essen geben. Die verleihen dann die Kinder an die Frauen, die du soeben gesehen hast, zum Betteln. Viele der Kinder sterben …« Miguels Stimme versagte mitten im Satz.
»Aber was hat der Jurado damit zu tun?«
»Mehr, als du denkst«, erwiderte der Junge. »Die Statuten der Bruderschaft legen fest, dass ein Aufsichtsbeamter regelmäßig überprüft, ob die Kinder noch bei den Personen wohnen, die dafür bezahlt werden, und ob sie noch am Leben sind. Don Martín und der Aufsichtsbeamte sind Komplizen. Der eine überlässt die Kinder den Frauen, die ihm genehm sind, und der andere drückt beide Augen zu. Jede Woche bezahlen die Bettlerinnen dem Jurado und dem Aufsichtsbeamten ihren Anteil. Rafaela hat mir erzählt, dass ihr Vater das Geld benötigt, um im Rat der Stadt den Veinticuatros ebenbürtig zu sein. Ich könnte dir jetzt noch die Namen der Kinder nennen, die zuletzt übergeben wurden, die Namen der Frauen, die sie versorgen sollen, sowie die Namen der Bettlerinnen, die inzwischen mit ihnen durch die Straßen ziehen.«
Hernando kniff die Augen zu düsteren Schlitzen zusammen.
»Du sagst, dass viele dieser Kinder sterben?«
»So ist das Geschäft, Señor. Ich selbst kenne es leider nur zu gut. Es gibt Kinder, die erregen das Mitleid noch der hartherzigsten Passanten. Andere Kinder hingegen taugen dafür gar nicht. Mit dicken, gut genährten Kindern erhält man kein Almosen. Deshalb sind diese Kinder alle klapperdürr. Ja, Señor, sie sterben vor Hunger oder an einem Rattenbiss oder beim geringsten Fieber. Und nichts davon steht in den Akten der Bruderschaft.«
Hernando blickte zum bedeckten, dunklen Himmel hinauf.
»Du willst, dass ich den Jurado mit dieser Sache erpresse, damit er mir Rafaelas Hand gewährt, nicht wahr?«
»Ja, Señor.«
61
D on Martín Ulloa – der Nadelmacher, der das Jurado-Amt von seinem Vater geerbt hatte – weigerte sich, Hernando zu empfangen. Eine alte, dicke Moriskensklavin übermittelte ihm die Nachricht ihres Herrn: beim ersten Mal nur unhöflich, beim zweiten Mal übel gelaunt, und beim dritten Mal ließ sie ihrer Wut freien Lauf.
»Richte deinem Herrn aus«, erwiderte Hernando übertrieben deutlich, wohl wissend, dass seine Worte hinter der Tür belauscht wurden, »dass mich Angustias und ihre Freundinnen schicken. Hast du mich verstanden! Ich komme im Auftrag von Angustias! Richte ihm aus, dass ich ihn morgen wegen einer Sache, die ihn betrifft, bei mir erwarte. Das ist seine letzte Gelegenheit, sonst gehe ich zum Corregidor oder zum Bischof. Ich bin sein Nachbar, falls ihm das entgangen sein sollte«, fügte er spöttisch hinzu.
In der Einsamkeit seiner Bibliothek dachte Hernando unaufhörlich über die eine Frage nach: Wollte er Rafaela heiraten?
»Du bist allein! Du brauchst eine Frau an deiner Seite, die sich um dich kümmert, die dich liebt und die dich mit der Wärme einer Familie umgibt!«, hatte ihm Miguel am Morgen nach dem Treffen im Stall entgegengeschleudert. Hernando hatte sein Bedauern darüber ausgedrückt, dass für Rafaelas Problem eine andere Lösung gefunden werden müsse. Dass die Sache mit den Findelkindern angezeigt werden musste, stand für ihn hingegen außer Frage. »Willst du es denn nicht begreifen?«, hatte Miguel nur erwidert. »Du versteckst dich seit Jahren hinter deinen Büchern und deinem Schreibkram. Was ist mit Kindern? Wer soll einmal deinen Besitz erben? Möchtest du keine neue Familie gründen? Du wirst alt! Willst du deinen Lebensabend allein verbringen?«
»Ich habe dich.«
»Nein.« Zwischen den beiden entstand ein betretenes Schweigen. »Ich habe viel darüber nachgedacht. Wenn du Rafaela nicht heiratest und vor dem Kloster bewahrst, gehe ich wieder auf die Straße.«
»Es ist ungerecht, dass du mich jetzt auch noch erpresst«, entgegnete Hernando, der inzwischen sehr ernst geworden war.
»Nein, das ist sehr wohl gerecht«, bekräftigte Miguel. Er war sich über die Tragweite seiner Worte durchaus im Klaren. »Ich habe dir gesagt, dass die Rettung des Mädchens mein einziger Wunsch ist. Um Himmels willen, wenn ich nur könnte, wenn ich selbst die Gelegenheit hätte, würde ich dich nicht um deine
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