Die Pflanzenmalerin
parkte. Revesby war ein nichts sagender kleiner Ort: kein Pub, das Zuflucht vor den herankriechenden Schatten bot, kein Laden weit und breit, nur Stille, hinter Hecken verborgene Häuser und eine große, viereckige Grünfläche. Kein richtiger Dorfanger, dafür ist der Ort zu wenig geschlossen, allenfalls trennt der Platz in der Mitte eine Seite des Dorfes von der anderen und erweckt - zumindest an einem Winternachmittag - den Eindruck von Leere. Auf der einen Seite stand eine lange Reihe ebenerdiger Häuser, der Bauart nach einstige Armenunterkünfte. Über einer der Türen entzifferte ich den in Stein gemeißelten Namen »Banks« und eine Jahreszahl. Ich rechnete rasch nach. Vielleicht der Großvater unseres Mannes.
Im Grunde gab es keinen Anlass für meinen Besuch, ich war nur neugierig, wo sich das Leben der Menschen, von denen ich gelesen hatte, einst abgespielt hatte. Revesby Abbey lag außerhalb des Dorfes. Das Haus, in dem Joseph Banks gewohnt hatte, war zwischen 1840 und 1850 abgebrannt. An seiner Stelle stand auch jetzt noch ein Privathaus, das auf herausfordernde Weise als solches gekennzeichnet war. Ich wandte mich ab und konzentrierte meine Betrachtungen auf die Kirche. Sie war nicht mehr die, die Banks besucht hatte. Seine Kirche war im neunzehnten Jahrhundert abgerissen worden, um einer größeren Platz zu machen, und auch hier gab es nichts mehr zu sehen außer einem Modell des ursprünglichen Baus in einem dunklen Winkel - klein, unregelmäßig und reizvoll. Über die Jahre hatte auch die neue Kirche Patina angesetzt und war ihrerseits alt geworden, aber sie strahlte nicht das aus, was ich hier gesucht hatte. Das alles gab es nicht mehr. Ich war hundert Jahre zu spät gekommen.
Allmählich schwand kaum merklich das Licht. Der Friedhof war älter als die Kirche, die er umgab, und ich wanderte zwischen Grabsteinen hindurch, die schon zu Banks’ Lebzeiten dort gestanden hatten. In der Dämmerung konnte ich gerade noch Namen und Jahreszahlen entziffern, soweit das Moos sie nicht überschrieben hatte. Bald würden sie verschwunden sein. Dann verbündeten sich Dornengestrüpp und Dunkelheit gegen mich und zwangen mich, den Friedhof zu verlassen. Mein Besuch hatte nichts gebracht.
Oder vielleicht doch. Als ich ins Auto stieg, dachte ich an die alten Grabsteine, die sich so behaglich um die neue Kirche scharten - Vergangenheit und Gegenwart einträchtig beisammen. Hatte ich etwas daraus zu lernen? Schließlich, so überlegte ich, war die Expedition meines Großvaters nicht die einzige in der Geschichte gewesen, die sich durch keine Katastrophe vom Weitermachen abhalten ließ, einfach weil die Beteiligten weder den Weitblick besaßen, eine Veränderung herbeizuführen, noch den Mut hatten aufzugeben.
Der stille Nachmittag hatte mir Lust auf Gesellschaft gemacht, und als meine Scheinwerfer nach knapp zehn Kilometern an der Straße nach Lincoln ein Pubschild erfassten, hielt ich an, denn ich hatte außerdem auch kalte Hände und Füße. An der Bar saßen nur wenige Gäste, für mehr war es noch zu früh, aber im Kamin prasselte schon ein Feuer, und ich machte es mir mit einem Glas Bier in einer Ecke gemütlich. Es war ein altmodisches, nicht saniertes ländliches Pub ohne modernen Anstrich und ohne Speisekarte. Die Gegend hier war Fuchsjagdgebiet, und die Wände waren mit Überresten diverser Tiere geschmückt. Am meisten fiel eine Vitrine über der Bar ins Auge, in der eine junge Füchsin ein zerfleddertes, etwas angegrautes Huhn forttrug. An den anderen Wänden hingen in Reih und Glied die üblichen Beschläge von Pferdegeschirren sowie verblasste edwardianische Jagdszenen, Zeugen der jahrhundertealten Gegnerschaft zwischen dem Lincolnshire-Bauern und dem Vulpes vulpes , dem Rotfuchs.
Vulpes vulpes , der Rotfuchs.
Einen Moment lang saß ich reglos da, in meinem Kopf arbeitete es, dann folgte ein Schwall der Verwunderung über meine eigene Dummheit. Als ich mich wieder rühren konnte, tat ich es unbeholfen vor lauter Hast. Dieser Brief - hatte ich ihn noch bei mir? Ich tastete in meiner Tasche nach der Fotokopie. Inzwischen war sie total zerknittert. Wo war die Zeile, über die ich mit Potts geredet hatte? Dieser achtlos hingeworfene Satz, dem ich nicht mehr Bedeutung beigemessen hatte als einer beiläufigen witzigen Bemerkung. Da...
»Bis dahin hüte den Vogel wie deinen Augapfel - ich möchte bei meiner Rückkehr nicht erleben, dass dein junger Vulpes ihn mir entrissen hat!«
Ich hatte das für
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