Die Pflanzenmalerin
blieben am Kirchentor stehen. Sie drehte ihn zu sich her, sodass er ihr in die Augen sehen musste.
»Nein«, sagte sie und blickte zu ihm auf. »Er hätte mir jede Alternative zugestanden, hätte es nur eine gegeben. Aber es gab keine. Ich hatte nichts. Eine junge Frau ohne Geld und Charakter, nicht zum Dienen erzogen, nicht geeignet, Kinder ehrbarer Leute zu unterrichten, weil sie ohne Religion und Moral aufgewachsen ist. Eine Frau, die sich täglich im Wald mit einem Mann trifft und lächelnd zurückkehrt. Sehen Sie? Verstehen Sie? Er brauchte gar nicht … Ich schickte nach ihm. Ich bat ihn nur um eines: unter anderem Namen leben zu dürfen, damit die Kritiker meines Vaters nicht davon hören und ihrer Häme freien Lauf lassen würden.«
Ihre Hand auf seinem Arm hinderte ihn am Weitergehen, und in ihren Augen brannte ein Feuer. Nie zuvor war es ihm in den Sinn gekommen, dass sie für ihre Begegnungen im Wald einen Preis zu zahlen hätte. Sie sah den Schmerz und die Unsicherheit in seinem Blick, doch sie fuhr unerbittlich fort:
»Er war freundlich zu mir. Verstehen Sie? Er tat alles, um es mir recht zu machen. Nie hat er maßlose Forderungen gestellt. Er spielt niemals auf meine Armut an, erinnert mich niemals daran, was ich ihm schulde. Nutzt meine Lage niemals aus, um mich zu demütigen. Er setzt alles daran, mich glücklich zu machen. Und ich erlaube es ihm, weil es das Einzige ist, was ich ihm zurückgeben kann.«
Sie sah ihn unverwandt an, und das Feuer in ihren Augen schien sich in ihn einzubrennen. Nie zuvor hatte er so grüne, so strahlende Augen gesehen, nie hatte er Augen so leuchten sehen.
Die Schatten waren noch länger geworden, aber sie standen weiter im vollen Sonnenlicht. Sie sah, wie er mit sich kämpfte, sah, wie sich Worte auf seinen Lippen formen wollten, und ihre Schultern strafften sich. Als er sprach, klang seine Stimme rau.
»Kommen Sie mit mir fort«, sagte er. Eine Amsel stieg aus dem Unterholz auf und flog mit einem Schrei vorüber. »Kommen Sie mit mir fort«, wiederholte er dringlicher. »Jetzt haben Sie eine Alternative.« Plötzlich musste er lächeln. »Ich schwöre, ich werde nichts anderes von Ihnen verlangen, als dass Sie mir von Flechten sprechen. Und dass Sie täglich zeichnen, bis Ihre Zeichnungen die Welt in Erstaunen setzen.«
Während er sprach, strömte eine Wärme in sie ein, die sie erbeben ließ. Der ungestüme Drang, den sie hatte vergessen wollen, war wieder da, tobte in ihrem Innern. Sie wusste, dass manches nicht so sein würde, wie er gesagt hatte, sie wusste, dass kein Mensch nichts verlangte. Doch was der Preis auch sein mochte - sie würde wieder leben. Sie würde herrlich und in Freiheit leben.
10
Worte, Bilder
Es ist eine Binsenweisheit, aber Reisen führen nicht immer ans erwartete Ziel. Wir hatten einen Vogel gesucht - gefunden hatten wir ein Gesicht auf einem Bild: das Gesicht einer namenlosen Frau mit auffallenden Augen. Die nächsten Tage hatten wir nur noch Bilder im Kopf. Wir begannen mit den besten Porträts der damaligen Zeit, einem Vormittag in der National Portrait Gallery und einer skurrilen Form der Gegenüberstellung. Am Ende brauchten wir gar nicht lange; es gab unter den Gemälden des achtzehnten Jahrhunderts weit mehr Männer- als Frauenporträts, und nach einer knappen Stunde waren uns die Verdächtigen ausgegangen. Also fingen wir noch einmal von vorn an, nahmen uns diesmal die Männer vor und suchten nach einer Familienähnlichkeit. Wir lachten und hatten eine Menge Spaß, bis wir uns plötzlich vor einem Porträt von Joseph Banks wiederfanden. Andere Besucher strömten an uns vorbei, während wir es, mit einem Mal wieder ernst, schweigend betrachteten.
Es ist ein bemerkenswertes Porträt. Es zeigt Banks als jungen Mann, frisch von seiner großen Reise zurückgekehrt. Er sitzt an einem Schreibtisch voller Papiere, halb dem Betrachter zugewandt, dem er gerade in die Augen blickt. Seine Miene wirkt auf den ersten Blick ernst und würdevoll, doch bei genauerem Hinsehen entdeckt man den Anflug eines Lächelns um seinen Mund. Ähnlich verhält es sich mit den Augen: In dem direkten, gleichmütigen Blick verbirgt sich eine Heiterkeit, die seinen Ernst Lügen straft; hinter der gravitätischen Fassade späht ein lachender junger Mann hervor. Kein Gesicht auf den anderen Gemälden ringsum wirkt so lebendig.
»Mmm«, murmelte Katya etwas anzüglich. »Attraktiv. Nicht unbedingt ein schöner Mann, aber entschieden attraktiv. Wegen des
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