Die Pflanzenmalerin
wurde mir angesichts der Parallelen ziemlich mulmig. Das Einzige, was ich hatte, war ein Bild, und ich wusste nicht einmal, was es bedeutete. Verglichen damit war das Konzept meines Großvaters absolut hieb- und stichfest gewesen. Etwas beunruhigt ging ich nach Hause, um mit Katya zu reden, aber sie war schon weg. Nur ein Zettel hing neben der Treppe an der Wand: »City of Westminster Archives, St. Ann’s Street 10, SW/1.«
Wir leben in einer Gesellschaft, die seltsam abergläubisch ist, was schriftlich Fixiertes anbelangt. Wir nehmen es hin, dass der Regenwald zerstört wird, dass täglich zahllose unbekannte Organismen vernichtet werden, aber wir klammern uns verbissen an unsere Dokumente und Papiere. Kaum jemand ist dagegen gefeit. Ich bewahre Notizen über tote Vögel auf für ein Buch, das ich nicht schreibe, andere heben Rechnungen auf, Kontoauszüge oder unverlangte Preislisten irgendeines Pizzaservice, den es längst nicht mehr gibt. Unsere Staatsarchive quellen über von tagesaktuellen Petitessen, die sich eines Tages vielleicht in Geschichte verwandeln werden. Die viktorianischen Eisenbahnbauer haben unersetzliche Tudor-Häuser abgerissen, Angaben über die Kosten für Eisen und Holz aber sorgsam der Nachwelt überliefert. Und noch früher, als alte Landschaften durch Einfriedung sang- und klanglos verschwanden, haben Küster Anfang und Ende des Lebens von Menschen, die heute nur noch in ihren mürben Kirchenbüchern existieren, genau aufgezeichnet.
Ich fand Katya im Rechercheraum der Westminster-Archive, ganz hinten in der Ecke, vor einem großen Mikrofilm-Lesegerät. Erst erkannte ich sie gar nicht. Ihr Haar war straff hochfrisiert, und sie hatte die Stirn in konzentrierte Falten gelegt, die mich zögern ließen. Es war warm in dem Raum, und es roch ganz schwach nach feuchten Mänteln. An einer Seite standen mehrere Reihen Karteikästen, und an den Computern in der Mitte hatte sich eine Gruppe plaudernder älterer Frauen niedergelassen.
Katya schaute kaum auf, als ich zu ihr trat, und begrüßte mich auch nicht. Sie lächelte nur, zeigte auf den Stuhl neben sich und fuhr fort, den Mikrofilm geschickt vor- und zurücklaufen zu lassen.
»Störe ich?«, fragte ich, aber sie ließ, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, weiter in alter, gestochener Handschrift geschriebene Seiten über den Bildschirm gleiten. Ich erkannte Namen, Jahreszahlen, Orte.
»Mist!«, rief sie plötzlich und hielt abrupt inne. Die älteren Frauen drehten sich nach ihr um. »Deinetwegen hab ich’s jetzt verpasst.«
»Tut mir Leid.« Unsere Blicke begegneten sich und hielten einander einen Moment lang fest. Dann wandte sie sich wieder dem Bildschirm zu und lächelte in sich hinein.
»Das sollte es auch. Lässt mich hier die ganze Arbeit allein machen.«
Sie ließ den Film in die andere Richtung laufen, viel langsamer jetzt, bis sie die gesuchte Stelle fand. »Da, schau dir das an. Die Steuerrolle der Gemeinde Marylebone von 1774.«
Ich hatte die beleuchteten Seiten eines alten Registers vor mir, ein fotografisches Abbild des stockfleckigen, an den Rändern eingerissenen Originals. In der linken Spalte waren Adressen verzeichnet und neben jeder ein Name, ein Datum und ein Geldbetrag. Auf halber Höhe der Seite las ich den Eintrag »Orchard Street« und »30. April 1774«. Es war die einzige Adresse, neben der kein Name stand.
»Wenn der Klatsch stimmt, dann hat Miss B. hier gewohnt«, sagte Katya und schaute auf, um meine Reaktion zu sehen.
»Und was heißt das?« Mir war nicht klar, worauf sie hinauswollte.
»Bei der Orchard Street 24 fehlt der Name. Das heißt, das Haus war unbewohnt, als der Steuereintreiber kam. Und jetzt sieh dir das an …«
Sie spulte den Mikrofilm bis ans Ende, nahm ihn heraus und legte einen neuen ein. Bald hatte sie die Stelle, die sie mir zeigen wollte.
»Da. Orchard Street. Dieselbe Adresse, ein Jahr früher. Am 8. Juni 1773.«
Die Schrift war deutlich lesbar:
Orchard Street 24 Joseph Banks Esq
»Ich hab mit 1772 angefangen, um sicherzugehen«, sagte Katya. »Da war das Haus an einen Mr. Metcalfe vermietet. Im Juni’73 hat Banks es übernommen, wie in der Klatschkolumne erwähnt. Und im April’74 stand es wieder leer.«
»Und was bedeutet das?«
»Dass die Affäre zu dem Zeitpunkt vorbei war.«
»Sie könnte doch woandershin gezogen sein.«
Katya schüttelte den Kopf. »Sie wird nie wieder irgendwo erwähnt, darin stimmen alle Bücher, die wir gelesen haben, überein. Vielleicht hat
Weitere Kostenlose Bücher