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Die Pforte

Die Pforte

Titel: Die Pforte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Lee
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waren. Offenbar verhalf ihnen das Adrenalin sogar zu gesteigerter geistiger Klarheit. Travis sah, wie zwei von ihnen kurz beratschlagten, und dann zog einer der beiden einen Autoschlüssel heraus und machte sich damit am Türschloss zu schaffen.
    Der Mann im Käfig musterte reglos die tobende Horde um sich herum, wirkte zwar ein wenig beklommen, aber kein bisschen überrascht. Wie ein Meeresbiologe, der von einem sicheren Käfig aus eine Gruppe Haie beobachtet.
    Travis schaute wieder zu den Sitzreihen und den drei Leuten, die weiterhin dort saßen. Sie waren am weitesten von dem Käfig entfernt. Und damit auch von dem orangefarbenenWürfel. Als hätte das Ding einen bestimmten Wirkradius, und sie befänden sich gerade noch außerhalb davon. Einer der drei hob den Blick und sah zu jemandem hinüber, der sich außerhalb des Blickfelds befand. Offenbar erhielt er eine Anweisung, denn er nickte, stand auf und ging einen einzigen Schritt auf den Käfig zu. Sofort ging eine Veränderung mit ihm vor sich, sein Blick verfinsterte sich, er mahlte zornig mit den Kiefern. Dann stürzte er mit ebensolcher Wut auf den Käfig zu wie schon die Leute vor ihm.
    Hier endete das Video.
    Travis starrte kurz den leeren Bildschirm an und wandte sich dann Paige zu.
    «Was hat es denn mit dem Ding auf sich», fragte er, «dass es die Leute so wahnsinnig wütend macht?»
    «Es wirkt irgendwie auf den R-Komplex ein», sagte sie. «Auf den primitiven Teil des menschlichen Gehirns, das Stammhirn, von wo aus die Kampf-oder-Flucht-Reaktion gesteuert wird. Wo auch die Aggression ihren Sitz hat. Der Würfel bewirkt zweierlei. Erstens, er kennzeichnet jeden in seiner unmittelbaren Umgebung als Ziel. Als Nächstes wirkt er auf alle Personen in einem Umkreis von sechs Metern ein, stachelt ihre Aggressionen auf und lenkt sie dann gegen das Ziel.»
    «Das hat jemand in Border Town bestimmt auf die ganz harte Tour herausgefunden.»
    Paige wandte den Blick ab und nickte. Travis verzichtete lieber auf Nachfragen.
    «Ist jemals auch irgendwas Nettes aus der Pforte zum Vorschein gekommen?», fragte er. «Ein Apparat zum Beispiel, der süße kleine Hundewelpen in Serie erzeugt, so was in der Art?»
    Paige brachte ein Lächeln zustande. «Es ist nicht alles nur schlecht. Wenn wir die nächsten sechsunddreißig Stunden überleben, zeige ich Ihnen ein paar von den guten Sachen.»
     
    Irgendwo über Grönland kippte Travis die Rückenlehne seines Sessels zurück, um ein wenig auszuruhen. Er schlief sofort ein.
    Paige beobachtete ihn.
    Schon nach kurzer Zeit wandte sie seltsam verlegen den Blick ab, obwohl sonst niemand mit im Raum war, der sie hätte sehen können.
    Sie traute den Empfindungen nicht, die er in ihr weckte. Aus gutem Grund: Momentan war sie emotional überreizt bis zum Gehtnichtmehr. Der Typ hatte sie aus der schlimmsten Lage befreit, in der sie sich je befunden hatte – buchstäblich aus allen Rohren feuernd   –, und sie dann über fünfzehn Meilen weit getragen, um sie in Sicherheit zu bringen. Nur an den ersten Teil dieser Gewalttour durch die Berge konnte sie sich noch erinnern, an kurze Wachmomente, ehe sie dann völlig in Bewusstlosigkeit versank. Wie sie in seinen Armen immer wieder zu sich kam, während sie wie ein Kind getragen wurde. Eigentlich war ihr das Gefühl zuwider gewesen: dass sie nach jahrelangem, hartem militärischen Training körperlich nicht dazu in der Lage war, sich auf den Beinen zu halten. Doch hinzu kam noch etwas anderes, ganz unbestritten: Es hatte sich auch gut angefühlt, getragen zu werden. Einfach nur gut, aus einem Urgefühl heraus, bei dem es um Verletzlichkeit und Geborgenheit ging. Bei ihm hatte sie sich einfach nur sicher gefühlt.
    Und dann hatte sie ihn geküsst. Himmel, wie war sie bloß darauf gekommen? Erforderlich war das nicht, denn sein Theater war ja, aus Sicht des Hubschraubers, schon glaubhaft genug gewesen. Rückblickend hätte sie den Kuss gerne auf ihre Benommenheit zurückgeführt, aber tatsächlich war sie zu dem Zeitpunkt hellwach gewesen, dafür hatten die Windböen, die von den Rotoren hinabpeitschten, nachhaltig gesorgt.
    Sie betrachtete ihn noch einmal. Er schlief tief und fest. Im Sonnenlicht, das ihm quer über die Brust fiel, wanderten die Schatten der Falten in seinem Hemd bei seinen Atemzügen auf und ab, auf und ab.
    Nein, sie traute ihren Gefühlen nicht, kein bisschen. Vor ein paar Stunden, als sie seinen Lebenslauf auf dem Bildschirm ihres PDA überflog, hatte es sie

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