Die Pforten der Ewigkeit
Grund des Kessels und damit auf dem Seegrund. Die damaligen Steinbrucharbeiten hatten sich offensichtlich nicht nur am Hang nach oben, sondern auch nach unten gegraben und hatten so den Kessel erschaffen; dieser hatte sich irgendwann mit Wasser gefüllt und war jetzt der See. Es dauerte nicht lange, bis Rogers, Walter und Godefroy ahnten, dass ihnen Marquard bei aller Redseligkeit etwas verschwieg, was mit dem See zusammenhing.
Sie arbeiteten sich von oben nach unten vor; sägten die dickeren Stämme durch oder rissen einfach die Wurzeln ab, die sich an den Stein klammerten. Als der See voller treibenden Fällgutes war, holten sie das, was sich für die Holzbauten verwenden ließ, mit Seilen heraus, an denen sie Wurfanker befestigt hatten. Falls jemand sich Gedanken machte, dass drei streunende Hilfsarbeiter die Wurfanker handhabten wie geübte Soldaten bei einer Belagerung, sprach er sie nicht aus. Allerdings hatten sie nicht viele Zuschauer – die wenigen Arbeiter waren alle mit Wilbrands Bau beschäftigt; für den Baumeister selbst war ein Steinbruch offensichtlich erst dann interessant, wenn er endlich an die Steine herankam, und die Städter begegneten der ganzen Angelegenheit mit der muffeligen, argwöhnischen Haltung, die sie von Anfang an an den Tag gelegt hatten. Marquard und einige wenige andere waren löbliche Ausnahmen. Rogers, der insgeheim gehofft hatte, Schwester Elsbeth würde sich dann und wann zu ihnen gesellen, fiel eine junge Frau mit teuren Gewändern auf, die entgegen jeder Sitte ohne Begleitung durch die Gassen ging und ihnen ab und zu von weitem zusah. Ihr Gesicht verriet nichts, außer dass sie eine Schönheit war, nach der man sich auch in der an weiblicher Schönheit nicht armen Langue d’Oc umgedreht hätte. Marquard spie aus, als Rogers fragte, wer sie war.
»Das is’ dem alten Johannes Wilt seine Tochter, Constantia«, mümmelte er. »Sie is’ die Witwe von Rudeger, den Wegelagerer im Sommer kaltgemacht haben – die Zeiten werden immer schlechter, Junge, das sag ich dir, früher ham die Herren die Straßen beschützt und Zoll verlangt wie ein Jude, aber wenigstens wurde einem nich’ der Hals abgeschnitten von irgendwelchem Gesindel, und heute lauern sie selber den Pfeffersäcken auf – jedenfalls, jetzt is’ sie die Matratze von«, der Alte bekreuzigte sich, »Meffridus Chastelose. Man kann nich’ sagen, dass das Mädel viel Geschmack beweist bei der Auswahl ihrer Stecher.«
»Sie läuft durch die Stadt wie eine ehrlose Frau.«
»Na ja, weil sie das is’, mein Junge, weil sie das is’.«
»Ich dachte, lose Frauen würden aus der Stadt vertrieben. Ist ihr Vater so einflussreich?«
Marquard bekreuzigte sich ein zweites Mal. »Niemand vertreibt die Frau aus der Stadt, die Meffridus Chastelose beschält.«
»Und was interessiert sie so an unserer Arbeit hier, dass sie uns von weitem zusieht?«
»Frag sie, mein Junge, frag sie. Aber sieh zu, dass du Abstand hältst und ’n paar Zeugen hast, dass du sie nich’ angefasst hast, nich’ dass Meffridus noch eifersüchtig wird.«
Rogers packte Marquards Handgelenk, als der Alte sich ein drittes Mal bekreuzigen wollte. »Marquard – warum hat man eigentlich den Steinbruch damals aufgegeben?«
Marquard sah ihn von unten herauf mit einem Ausdruck an, der zu besagen schien: Da musst du schon früher aufstehen, wenn du mich reinlegen willst, mein Junge, da musst du früher aufstehen . Dennoch klang seine Stimme heiserer als sonst, als er sagte: »Keine Ahnung, Junge, da war ich schon nich’ mehr in der Stadt.« Er log so klar, dass es ihm wie auf der Stirn geschrieben stand.
Am nächsten Tag sollte Rogers eine Ahnung davon bekommen, was geschehen war. Es war der Tag, an dem sie Godefroy verloren.
8.
WIZINSTEN
Abgesehen von den Gelegenheiten, zu denen er sich hinausgeschlichen hatte, war Constantia von Meffridus seit ihrer ersten gemeinsamen Nacht nicht mehr alleingelassen worden – zwei Tage, nachdem er mit dem durch Schläge gefügig gemachten Rudeger nach Ebra aufgebrochen und dann ohne ihn zurückgekommen war. Nun, da er am frühen Morgen davongeritten war, lag sie allein im Bett, lauschte der Stille der Nacht und fragte sich, ob sie verrückt geworden war. Vermisste sie ihn etwa? Den Mann, den zu vernichten ihr Lebensziel geworden war? Auch wenn er der erste Mann war, der im Bett nicht mit Gewalt über sie hergefallen war oder die Bereitwilligkeit ihres Körpers als gegeben betrachtete …
Der Aufbruch
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