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Die Pforten der Ewigkeit

Die Pforten der Ewigkeit

Titel: Die Pforten der Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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vielen Tagen. Der Lichtstrahl fiel auf den Kopf des Pferdes – die gesamte lebensgroße Statue, die Wilbrand aus mehreren Blöcken aufeinandergeschichtet hatte, war von einem wackligen Gerüst umgeben, auf dem Wilbrand herumkletterte, wenn er an der Statue arbeitete – was er schon seit ebenso vielen Tagen nicht mehr getan hatte. Noch befand sich das Bildwerk in einem frühen Stadium. Die groben Umrisse waren aus dem Stein gehauen und ließen erahnen, was einmal daraus werden würde.
    Sie ließen jedenfalls erahnen, dass es nichts Vernünftiges war.
    Wilbrand hatte, seiner Natur gehorchend, nicht widerstehen können und an allen möglichen Stellen seines Werks herumgefeilt. Elsbeth hatte er erklärt, das Geheimnis eines ebenmäßigen, ausgewogenen und rundum richtig konturierten Bildwerks wäre es, alle Arbeiten immer in der gleichen Fertigungsstufe zu halten. Wenn man den Umriss aus dem Stein meißelte, hielt man sich nicht an einer Stelle auf und begann dort bereits mit den Feinarbeiten, nur weil einem danach war. Dann jedoch hatte er gegen sein eigenes Postulat verstoßen. Das Schlimme daran war, dass er diesem Fehler nun die alleinige Schuld am Misslingen der Statue gab, wo es Elsbeth vollkommen klar war, dass er ganz einfach rundum ungeeignet als Bildhauer war. Der Kopf des Pferdes sah aus, als habe ein Kind versucht, ein Pferd zu malen, dem ein schlechter Geruch in die Nüstern gestiegen war, allerdings ohne die unfreiwillige Komik einer Kinderzeichnung. Bei näherem Hinsehen blieb einem das Lachen im Hals stecken. Das Pferd war einfach nur grauenhaft hässlich. Tatsächlich war das einzig Gute daran, dass kein teurer Marmor dafür verschwendet worden war.
    »Geht raus«, sagte Wilbrands Stimme dumpf von irgendwoher aus den Schatten. »Ich schäme mich.«
    »Du solltest dich dafür schämen, dass du den Bau vernachlässigst«, sagte Elsbeth.
    »Das hier«, murmelte Wilbrand, »das hier ist meine eigentliche Aufgabe in der Welt. Der Bau ist nur ein Nebenprojekt, zu dem Ihr mich gezwungen habt.«
    Elsbeth seufzte. Ein anderer Mann hätte sich in Wilbrands Lage vermutlich bestialisch betrunken, einen Hammer genommen und das Machwerk zu Steinmehl verarbeitet. Doch Wilbrand neigte im Unglück eher dazu, sich in Selbstmitleid zu ersäufen statt in einem Weinfass. Elsbeth verschluckte die Antwort, die sich ihr auf die Zunge drängte, und verließ die Hütte wieder. Sie hatte sie jeden Tag aufgesucht, seit Wilbrand in Depressionen verfallen war, und hatte jeden Ansatz versucht: Freundlichkeit, Mitgefühl, Schmeichelei, Trost, Ärgerlichkeit, Anweisungen, Drohungen, Schmähungen. Appelle an sein Verständnis für die Schwestern, die die Stundengebete immer noch in dem kahlen, abweisenden Oratorium in der Benediktinerruine verrichteten und ihre Mahlzeiten in der einen Ecke des Raumes einnahmen (sie weigerten sich alle, ihn Refektorium zu nennen), in dessen anderer Ecke ihre Schlafstätten waren, hatten ebenso wenig gefruchtet. Ein Mensch, der sich als vollkommener Versager fühlt und darin badet, lässt sich nur schwer bewegen, mit all den anderen Menschen, denen es ja offensichtlich bedeutend besser geht als ihm, Mitleid zu empfinden. Sie überlegte, ob sie Constantia zu Rate ziehen sollte, aber seit dem Überfall auf die Baustelle war ihr Liebhaber Meffridus nicht mehr auf Reisen gewesen, und Constantia war kaum einmal in den Gassen Wizinstens oder auf der Baustelle zu sehen. Wenn es etwas zu besorgen gab, erledigten Ella und Ursi Kalp dies; wenn Constantia doch einmal draußen war, befand sie sich meistens in Begleitung von Meffridus, und an den wenigen anderen Gelegenheiten hatte sie nachdenklich und beinahe abweisend gewirkt. Vielleicht wartete sie darauf, dass Elsbeth endlich ihre Ankündigung wahrmachte und mit Meffridus sprach, warum er Constantia nicht offiziell zur Frau nahm. Elsbeth gestand sich ein, dass sie den Gedanken daran immer wieder verdrängte. Trotz all seiner Hilfsbereitschaft flößte ihr der Notar die gleiche Beklommenheit ein wie bei ihrer ersten Begegnung.
    Sie spähte in den Himmel, wo die Sonne ein hellerer Fleck hinter hoher, grauer Bewölkung war. Es dauerte nicht mehr lange bis zur Sext und dem Mittagsmahl. Sie blies in ihre kaltgewordenen Hände; ein heftiger Herbststurm vor zwei Tagen hatte das Wetter nachhaltig geändert, und die steife Brise, die er zurückgelassen hatte, ließ es noch kälter wirken, als es ohnehin war. Elsbeth machte sich auf den Weg zur Klosterruine, als sie sah,

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