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Die Pforten der Ewigkeit

Die Pforten der Ewigkeit

Titel: Die Pforten der Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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Wenn man zu Füßen des Reiters oder an irgendeinem anderen Platz im Dom stand, blickte der Reiter stets an einem vorbei. Doch hier, an genau dieser Säule … der Reiter sah Elsbeth an, und über die mehrere Dutzend Schritte Distanz hinweg schienen seine Augen plötzlich lebendig zu werden und zu funkeln, wie die Augen des unbekannten Reiters im Hildeboldsdom gefunkelt hatten, bevor er sich über sie gebeugt und sie geküsst hatte.
    »Ihr seht es, nicht wahr?«, fragte der junge Mann.
    Elsbeth nickte. »Ich fühle es«, flüsterte sie.
    »Der zweite Reiter hätte zu dem ersten hingesehen. Sie hätten nur Augen füreinander gehabt. Sie wären eine Einheit gewesen.«
    »Der zweite Reiter wäre eine Frau gewesen«, murmelte Elsbeth.
    »Wie? Wie kommt Ihr denn darauf? Nein, der zweite Reiter wäre der erste gewesen, nur als alter Mann. Versteht Ihr denn die Allegorie nicht? Der Reiter dort vorne steht im Ostteil des Doms; der zweite wäre im Westteil gestanden. Die Jugend im Sonnenaufgang, das Alter im Sonnenuntergang – aber es wäre keine Allegorie des Vergehens gewesen, versteht Ihr, weil der alte Reiter den Blick zu seinem jungen Selbst gerichtet hätte. Es wäre ein Kreis geworden, ein ewiger Kreislauf. Hier … seht her …«
    Er hielt ihr das Blatt mit der Architekturzeichnung unter die Nase, ließ es in der Aufregung fallen, bückte sich danach, deutete auf etwas. Er hielt das Blatt jetzt verkehrt herum, aber Elsbeth konnte dennoch erkennen, was er meinte. »Seht Ihr die Kraftlinien hier? Und hier? Es ist nicht so, dass diese beiden Säulen das Dach der Kirche allein tragen könnten, aber wenn man sie herausnähme, könnten all die anderen das Dach nicht mehr stützen. Sie sind die Grundpfeiler der Kirche, und deshalb sollten die beiden Reiter auch hier platziert werden. Zugleich stehen die Säulen am Anfang und am Ende des Tages. Der junge Held und der weise alte Mann – auf ihnen ruht die Welt, auf ihnen ruht die Kirche. Selbstverständlich hätten sie beide den Kaiser darstellen sollen.«
    »Kaiser Heinrich?«
    »Kaiser Federico! Und es gibt noch eine weitere Allegorie – Ihr wisst doch, dass dieser Dom hier auch Kaiserdom heißt? Weil Kaiser Heinrich ihn in Auftrag gegeben hat, als er Papinberc zum Zentrum des Reichs machte. Hier sollten die Menschen zu Gott beten im Wissen, dass der Kaiser seine schützende Hand über sie und die Kirche hielt. Wisst Ihr, dass niemals jemand auch nur versucht hat, das Asyl zu verletzen, das der Kaiserdom bietet? Kein Bischof, kein Fürst, kein König, kein Kaiser. Der Teufel selbst könnte hier herein flüchten, und niemand würde ihn antasten. So mächtig ist der Schutz des Kaisers. Mittlerweile haben es fast alle vergessen, aber so war es geplant. Der Dom sollte vorwegnehmen, was in der Offenbarung steht: dass es der Kaiser ist, der am Jüngsten Tag das Böse besiegt und den Thron bereitet für Jesus Christus.«
    »Aber wenn Kaiser Heinrich diesen Plan hatte, wieso sollten die beiden Reiter dann Kaiser Federico …«
    »Kaiser Heinrich ging es nicht darum, seine eigene Person zu verewigen. Er wusste, dass er nicht der Auserwählte war. Er wollte nur für alle Zeiten zeigen, dass es das Kaisertum ist, das die Kirche trägt, und nicht umgekehrt. Aber der Mann, der den Reiter schuf … dieser Mann war davon überzeugt, dass Kaiser Federico der Jahrtausendkaiser war …« Seine Stimme erstarb, als die Erinnerung daran einsetzte, dass Kaiser Federico aus der Welt geschieden war, ohne sein großes Versprechen einzulösen. Er sah betreten und so verloren aus, dass er Elsbeth leidtat.
    »Woher weißt du, dass diese beiden Säulen das Hauptgewicht des Daches tragen? Kennst du den Baumeister?«
    »Nein. Aber das sieht man doch.«
    »Ich sehe so etwas nicht.«
    Diesmal war er geneigt, gnädiger mit ihrem Unwissen umzugehen – vielleicht, weil er eine neue demütigende Antwort fürchtete. »Die meisten sehen es nicht. Dabei ist es so klar, als wenn es mit Farbe auf die Gewölbebogen gemalt wäre.«
    »Und du möchtest den zweiten Reiter erschaffen.«
    »Ja.«
    Sie sah ihn lange an. Zuerst wand er sich unter ihrem Blick, dann wurde er plötzlich ruhig. Es war die Ruhe der Resignation. »Es wird mir nicht gelingen, oder?«
    »Wie heißt du?«
    »Wilbrand. Wilbrand Bluskopf.« Er räusperte sich erneut. »Weil alle finden, dass ich einer fixen Idee hinterherrenne.«
    »Ich bin Schwester Elsbeth. Warum müssen es ausgerechnet deine Hände sein, unter denen der zweite Reiter

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