Die Pforten der Ewigkeit
für eine Ordensschwester, alleine das Kloster zu verlassen. Bei den beamteten Schwestern gab es Ausnahmen, aber Lucardis hatte Elsbeth geraten, dieses Privileg nicht für sich zu nutzen, wenn sie den Gehorsam ihrer Novizinnen erhalten wollte. Außerdem, hatte Lucardis augenzwinkernd gesagt, schadete es den jungen Mädchen nicht, wenn sie ihre Neugier auf die von ihnen verlassene Welt ab und zu stillen konnten. Daher war Elsbeth stets von einigen der jungen Schwestern umgeben, wenn sie das Kloster verließ. Führte ihr Weg sie in den Dom, war dies ebenso gut, als wäre sie alleine gegangen. Die Mädchen pflegten sich in der Bewunderung für die Erhabenheit des Baus zu verlieren, und Elsbeth konnte tun und lassen, was sie wollte, während die anderen nacheinander die Seitenkapellen aufsuchten und beteten.
Sie wanderte zum Fürstenportal hinüber und schaute an der Säule nach oben. In der Düsternis brannte das Rot des Mantels, das Gold der Krone schimmerte. Die Augen des Reiters sahen über sie hinweg zur Mitte des Doms, doch sie fühlte, dass er sie ansah. Er saß in seiner eleganten Haltung im Sattel, den Finger in die Tasselschnur des Mantels gehakt. Sein Pferd war nicht das massige Streitross, dessen Herzschlag sie im Dom in Colnaburg zu hören geglaubt hatte, sondern ein schlanker, graziler Zelter, ein Apfelschimmel, dessen weiße Bemalung den Sandstein der Säule um die Figur herum erhellte. Das Blattgold seines Zaumzeugbeschlags blinkte.
»Ich … äh … habe Euch schon vermisst, Schwester«, sagte jemand zögerlich, der am Fuß der nebenstehenden Säule saß, die Knie hochgezogen und ein Brett darauf balancierend. Elsbeth hatte gehofft, ihn anzutreffen. Und sie hatte gehofft, dass er sie ansprechen würde. Bei ihrem letzten Besuch hatte sie ihn ermuntert, indem sie ihn angelächelt und ihm zugenickt hatte. Er hatte verblüfft zurückgenickt und vermutlich nicht geahnt, dass Elsbeths Interesse den Rückseiten der Bogen galt, auf denen er herumkritzelte. Heute würde sie sich die Werke ansehen. Sie wusste noch nicht, welche Überraschung auf sie wartete.
Sie trat zu ihm und schaute auf ihn hinab. »Was tust du da?«, fragte sie ihn freundlich.
Er starrte auf das Brett auf seinen Knien. »Äh …«, machte er.
Elsbeth beugte sich herab und musterte das von dutzendfach weggewischten Kohlestrichen graue und an den Kanten ausgefranste, zerknitterte Papier, das auf dem Brett lag. Der junge Mann hielt es mit dem linken Daumen in Position. Ein spitz zugeriebenes, längliches Stück Kohle ragte zwischen dem Daumen und dem Zeige- und Mittelfinger seiner Rechten hervor und schwebte über dem Blatt.
»Das sieht beinahe so aus wie der Reiter an der Säule«, sagte sie.
Der junge Mann schnappte nach Luft. Elsbeth erkannte, welchen Fehler sie gemacht hatte. »Nein«, sagte sie hastig, »es sieht ihm sogar sehr ähnlich. Sehr sogar. Sehr. Ahem …«
Der junge Mann murmelte: »Nein.«
»Nein«, sagte Elsbeth. »Um ehrlich zu sein: nein.«
Der junge Mann hob das Brett mit seiner Skizze in die Höhe und verglich sie mit dem Original. Er seufzte.
»Eigentlich ganz und gar nicht«, sagte Elsbeth.
»Gott hasst mich, Schwester.«
»Nun, so weit würde ich nicht gehen, abgesehen davon, dass das eine Blasphemie ist. Aber eines ist sicher: Die Zeichenkohle hasst dich.«
Der junge Mann seufzte erneut, machte einen halbherzigen Versuch, die bizarre Kreatur auf dem Blatt, zu der seine Künste den Reiter hatten gerinnen lassen, wegzuwischen, und drehte das Papier schließlich um. Darauf hatte Elsbeth gewartet.
»Warte mal«, sagte sie. »Was ist das?«
Elsbeths Gesprächspartner drehte das Brett widerwillig so, dass Elsbeth die Zeichnung genauer ansehen konnte. Sie sah aus wie das Innere einer Kirche, über das tausend Spinnen ihre Fäden gezogen hatten. Wenn man genauer hinsah, erkannte man, dass die feinen Striche und Linien nicht willkürlich waren, sondern wiederum Bilder ergaben: Aufrisse, Einblicke, Rückseiten von Ansichten, die auf dem Hauptbild nur von vorne zu sehen waren, Zahlenkolonnen, Details von Wölbungen, Fachwerk, Mauerfugen …
»Was ist das?«, wiederholte Elsbeth und deutete mit dem Finger auf das Bild.
»Äh … das sind Kraftlinien. Man kann sie in Wirklichkeit nicht sehen … aber sie sind da … sie bezeichnen die Richtungen, in die Gewölbe und Säulen zum Beispiel das Gewicht des Daches ableiten …«
»Nein, ich meine: das Ganze. Es sieht aus wie das Innere des Doms und gleichzeitig
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