Die Pforten der Ewigkeit
schlichen über den eingefrorenen Matsch der Wiese und drangen in den alten Klostergarten der Benediktiner ein. Trotz seiner Verzweiflung verspürte Rogers so etwas wie Spannung, wo sein Vater die Soldaten hinführen würde. Dass er, Rogers de Bezers, Ramons’ Sohn, fast ein Vierteljahr quasi auf dem Schatz gesessen hatte, ohne es zu wissen, traf ihn auf einmal mit aller Unwirklichkeit. Auf der anderen Seite hatte er auch täglichen Umgang mit Hedwig gehabt, die ihm vermutlich die Stelle ebenso gut hätte zeigen können, ohne dass er es geahnt hatte. Er kam sich wie ein Hanswurst vor, allerdings keiner, über den man lachen konnte.
Ramons hielt neben einer geduckten Form, die zwischen dem alten Klosterbau und dem Wachturm lag. Rogers erkannte die ausgetrocknete Zisterne.
Rudolf hielt den Finger an die Lippen. Sie hörten deutlich das Husten eines Mannes und dann ein gelangweiltes, eher undeutliches Singen. Rudolf grinste. Es war der Wächter am Virteburher Tor, und wie Gabriel prophezeit hatte, war er betrunken. Der Soldat mit dem Bogen schlich auf einen Wink Rudolfs los und verschwand in der Dunkelheit. Rogers lauschte mit weit aufgerissenen Augen. Er konnte sich an den Namen des Torwächters nicht erinnern, aber an sein Gesicht und wie er von seinem Posten herab immer gewinkt hatte, wenn jemand Bekannter durch sein Tor gegangen war. Das Singen und seine unrhythmische Unterbrechung durch das Husten dauerten eine Weile an. Dann vernahm Rogers den federnden Schlag einer Bogensehne und gleich darauf einen leisen Einschlag. Das Husten des Torwächters klang plötzlich überrascht, und man hörte etwas poltern, wie wenn ein schwerer Mann auf einem hölzernen Laufgang zusammenbrach. Danach … war alles still. Der Torwächter würde niemals mehr von seinem Posten herabwinken. Rogers, der so viele Tode miterlebt hatte, fühlte, wie ihm schlecht wurde.
»Ewiges Licht, schenke seiner Seele Frieden«, flüsterte Sariz. Einer der Soldaten zischte sie an.
»Wie geht es weiter?«, flüsterte Rudolf, der wieder von seinem Pferd abgestiegen war und neben Ramons stand.
Rogers’ Vater deutete in die Zisterne hinunter.
13.
WALDRAND, OBERHALB VON WIZINSTEN
Wolfram Holzschuher stolperte durch die Dunkelheit des Waldsaums oberhalb der Stadt. Er hätte es nicht ausgehalten, an der Messe teilzunehmen. Aber letztlich war sein ganzes Leben unerträglich geworden. Mit der Zeit hatte sich in ihm die verzweifelte Idee verfestigt, dass das Verschwinden seiner Tochter nur daran lag, dass nicht intensiv genug nach ihr gesucht worden war. Auf keinen Fall würde er denselben Fehler machen wie Volmar und Petrissa Zimmermann, die offensichtlich zu früh aufgegeben hatten. Auf keinen Fall würde er als lebendes Gespenst durch die Stadt irren. Dass er stattdessen als lebendes Gespenst durch den Wald irrte und seine Frau in all dem Leid allein gelassen hatte, statt es mit ihr zu teilen, kam ihm nicht in den Sinn.
Er war schon mehrfach über Wurzeln und Steine gefallen. Sein dicker Wintermantel und die Gugel starrten vor Schmutz, die Kapuze war vom Regen durchweicht und rutschte ihm ins Gesicht. Er stürzte erneut und wollte sich aufrichten, da wurde ihm bewusst, dass ein schweres Gewicht auf ihm lag und nach Ziegenbock roch.
»Jutta?«, fragte er in seiner ersten erbärmlichen Verwirrung.
»Was bist du für einer?«, flüsterte eine tonlose Männerstimme in sein Ohr.
Wolfram kämpfte schwach gegen den Mann an, der ihn zu Boden gerissen hatte. Als er einen Schlag gegen den Kopf erhielt, hielt er still. In sein seit Monaten gelähmtes Hirn sickerte langsam das Bewusstsein, dass es die Christnacht war, dass er sich ganz allein im Wald befand und dass die Hand, die er um seinen Nacken spürte, lange Krallen besaß. Alle alten Geschichten kamen ihm in den Sinn und tauschten die Trauer um seine verschwundene Tochter mit der plötzlichen Angst um sich selbst.
»Alle guten Geister loben Gott den Herrn«, stieß er hervor.
Für seine Mühe erntete er einen neuen Kopfstoß. »Halt die Klappe. Bist du aus Wizinsten?«
»Ja …«
Er hatte das Gefühl, dass der Mann oder Dämon oder was immer auf ihm lag, nickte. »Deine Leute sind alle in der Kirche oder zu Hause, was?«
»Ja …«
Ein dritter Kopfstoß. Wolframs Schädel begann zu schmerzen.
»Falsch. Was sind das für Kerle da bei dem See?«
Wolfram spähte in die Nacht und erkannte zu seinem Erstaunen, dass er sich auf dem Hügel hinter dem Galgenberg befand. Er hatte freie Sicht
Weitere Kostenlose Bücher