Die Pforten der Ewigkeit
suchte? Sie schluckte und fühlte sich noch beklommener als zuvor.
»Ah!«, rief Rudeger. »Das Mahl ist fertig!«
Constantia bemühte sich, ihre Aufmerksamkeit auf den Koch zu richten, der jetzt mit einer Holzschale und einem Stück Kalbfleisch darin vor ihr stand und sich verbeugte. Die Tradition verlangte, dass der erste Bissen der Braut vorgestellt und dann dem Bräutigam angeboten wurde. Dieser musste ablehnen und ihn seiner Braut anbieten, die ihn erneut zurückweisen würde. Der Bräutigam würde daraufhin probieren und eine Komödie daraus machen, ob es ihm schmeckte oder nicht. Dann würde er das Mahl eröffnen. Constantia würde, wie jede gut erzogene Braut, die ganze Zeit keinen Bissen anrühren, damit das Wasser in der polierten Schale, die man ihr danach als Erster zum Händewaschen reichen würde, kristallklar bliebe und die Gäste ihre vorzüglichen Manieren preisen konnten. Constantia starrte den Bissen Fleisch an und dann am Koch vorbei zu dem Paar mit der zerrissenen Kleidung. Sie waren noch ein paar Schritte näher gekommen, und mit der Erkenntnis, dass ihr Gewand zwar beschädigt und schmutzig, aber keineswegs ärmlich war, erkannte sie die beiden: Petrissa und Volmar Zimmermann. Volmar hatte den Umbau des Wilt’schen Hauses beaufsichtigt; fast alle Bauaufträge in der Stadt gingen an ihn. Das Paar galt als vermögend und mit einem glücklichen Händchen gesegnet, was das Geld anging … aber hatte sich nicht vor ein paar Wochen erst der Klatsch mit ihnen beschäftigt? Worum war es gegangen? Hatte Volmar nicht einem kleinen Adligen aus der Gegend, mit dem er um tausend Ecken verwandt war, einen riesigen Batzen Geld geliehen, damit dieser sich dem Kreuzzug des Franzosenkönigs nach Ägypten anschließen konnte?
Constantia sah, wie Meffridus Chastelose sich plötzlich umwandte und Volmar und seine Frau anstarrte, als erblicke er sie zum ersten Mal.
»Schön, Meister, schön, aber der erste Bissen gebührt natürlich meinem Weib!«, tönte Rudeger an Constantias Seite, ohne dass sie es wirklich wahrnahm.
Stimmt, Volmar hatte dem Ritter Geld gegeben. Und nach dem Scheitern des Kreuzzugs hatte jedermann gedacht, Volmar habe endlich einmal eine unkluge Investition getätigt. Aber dann hatte, noch während Constantia in ihren Hochzeitsvorbereitungen aufgegangen war, der Ritter plötzlich vor Volmars Haus gestanden. Wie es hieß, war er gefangen genommen worden, hatte sich aber mit dem ägyptischen Edelmann, dem er unterlegen war, angefreundet, und dieser hatte ihn nicht nur ziehen lassen, sondern ihm auch Geschenke gemacht. Der Ritter hatte seine Schuld samt den Zinsen zurückzahlen können. Volmar Zimmermann war doch gesegnet. Aber das war nicht alles gewesen, oder …?
Der Koch wandte sich ab und hielt die Holzschüssel Constantia unter die Nase. Meffridus Chastelose schnippte mit den Fingern, und die zwei Männer, die schon die ganze Zeit über hinter ihm gestanden hatten, schritten zu dem Paar am Rand des Feuerscheins und packten sie an den Schultern. Volmar machte sich los und warf einen flehenden Blick zu Meffridus.
Heilige Mutter Gottes, ja, das war es gewesen! Alle hatten sich in echter oder falscher Betroffenheit das Maul darüber zerrissen, dass das Geld zwar erneut den Weg in Volmars Haus gefunden hatte, aber nicht das Glück. Volmars und Petrissas jüngste Tochter, die seit ein paar Tagen vermisst worden war, war im Wald gefunden worden – oder besser gesagt, nicht sie, sondern einer ihrer Schuhe, zerfetzt, als hätten sich scharfe Zähne darüber hergemacht. Daraufhin war – nach Rücksprache mit einem ernst wirkenden Meffridus Chastelose, der seine Bediensteten dafür abgestellt hatte – die Suche nach dem Kind eingestellt worden. Wenn das eigensinnige Ding im Frühjahr allein in den Wald lief, wo sich die vom Winterschlaf hungrigen Tiere herumtrieben, war ihm nicht zu helfen. Der Pfarrer hatte sogar eine Totenmesse für die Kleine gehalten.
Meffridus schüttelte den Kopf.
Petrissa Zimmermann brach zusammen. Volmar fiel auf die Knie.
Mit wild klopfendem Herzen und ohne dass es ihr bewusst wurde, fasste Constantia in die Holzschüssel und nahm das Fleisch auf. Das überraschte Einatmen der Frauen rund um den Tisch nahm sie nicht wahr.
Meffridus’ Helfershelfer zerrten die ohnmächtige Petrissa und den tränenüberströmten Volmar davon. Meffridus lehnte sich zurück, als ob nichts gewesen wäre. Sein Blick fiel auf Constantia, und als ihm bewusst zu werden schien, dass
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