Die Philosophen der Rundwelt
spezifische Fähigkeit oder Verhaltensweise entwickelt haben, ergibt sich eine neue Möglichkeit: dieses Verhalten zu unterwandern. Vorhersagbare Verhaltensmuster bilden ein natürliches Sprungbrett, von dem aus Organismen in den Raum der angrenzenden Möglichkeiten vorstoßen können. Bienen haben die Fähigkeit entwickelt, Nektar und Pollen zu sammeln, um sich zu ernähren. Später haben wir diese Aktivität unterwandert, indem wir ihnen bessere Heimstätten boten, als sie in der Natur finden. Wir können ihren Honig stehlen, indem wir ihnen Bienenkörbe als anspruchsvollere Heimstätten im Raum der angrenzenden Möglichkeiten bieten.
Viele evolutionäre Trends sind aus der Subversion entstanden. Als sich die Möglichkeit etablierte, dem Geist anderer bestimmte Gedanken einzugeben, war es für die Evolution natürlich, mit Methoden zur Unterwanderung dieses Prozesses zu experimentieren. Man brauchte anderen nicht seine wahren Gedanken einzugeben: Man konnte versuchen, ihnen stattdessen andere Gedanken einzugeben. Vielleicht konnte man einen Vorteil gewinnen, indem man die Wesen in die Irre führte, mit denen man »kommunizierte«. Das Ergebnis war die Evolution des Lügens.
Viele Tiere erzählen Lügen. Man hat Affen beobachtet, wie sie das Gefahr-Zeichen der Horde machten. Wenn dann der Rest der Horde davonstürzte, um sich in Sicherheit zu bringen, schnappte sich der Lügner die Nahrung, die die anderen im Stich gelassen hatten. Auf primitiverem, aber ebenso wirksamem Niveau ist die Mimikry im Tierreich eine Art der Lüge. Eine harmlose Schwebfliege zeigt die schwarz-gelben Warnstreifen einer Wespe und lügt: »Ich bin gefährlich, ich kann stechen.«
Mit der Entwicklung der Menschheit wurden aus den Affenlügen raffiniertere Menschenaffenlügen, dann Hominidenlügen und schließlich Menschenlügen. Während wir intelligenter wurden, entwickelte sich unsere Fähigkeit zum Lügen in Wechselwirkung mit einer anderen wichtigen Fähigkeit: zu merken, dass man belogen wird. Eine Affenhorde kann verschiedene Schutzmaßnahmen gegen ein Mitglied entwickeln, das das Gefahrensignal für eigene Zwecke missbraucht. Eine besteht darin, zu erkennen, dass dieses Individuum nicht vertrauenswürdig ist, und seine Rufe zu ignorieren. Das Märchen von dem kleinen Jungen, der »Wolf« rief, zeigt die Gefahren, die dieses Gebiet sowohl für die Horde als auch für das Individuum birgt. Eine andere Möglichkeit ist, das Individuum fürs Lügen zu bestrafen. Eine dritte – die Fähigkeit zu entwickeln, zwischen einem erlogenen Gefahrensignal und einem echten zu unterscheiden. Starrt der Affe, der »Gefahr« ruft, mit einem gierigen Glitzern in den Augen auf eines anderen Nahrung?
Wie es gute evolutionäre Gründe fürs Lügen gibt, so gibt es auch gute evolutionäre Gründe für die Fähigkeit, Lügen zu entdecken. Wenn andere versuchen, dich zu ihrem eigenen Nutzen zu manipulieren, gereicht es dir wahrscheinlich zum Schaden. Es liegt also in deinem ureigensten Interesse, das zu erkennen und dich nicht manipulieren zu lassen. Das Ergebnis ist ein unvermeidlicher Rüstungswettlauf, bei dem die Fähigkeit zu lügen gegen die Fähigkeit, Lügen zu erkennen, ausgespielt wird. Er dauert zweifellos noch immer an, doch das Ergebnis sind bereits sehr raffinierte Lügen und sehr raffinierte Erkennungsmethoden. Manchmal sagt uns der Blick auf jemandes Gesicht, dass er die Unwahrheit spricht, manchmal der Tonfall der Stimme.
Eine wirksame Methode, eine Lüge zu erkennen, ist es, sich in die andere Person hineinzuversetzen und sich zu fragen, ob das, was sie sagt, zu dem passt, was sie Ihrer Überzeugung nach denkt. Die Person sagt beispielsweise, was Sie für ein hübsches kleines Kind haben, doch von früheren Begegnungen wissen Sie, dass der Betreffende für gewöhnlich Kinder nicht ausstehen kann. Es kann natürlich sein, dass Ihr Kind anders ist, doch dann bemerken Sie den betrübten Blick des anderen, als ob er lieber weit weg wäre …
Einfühlungsvermögen ist nicht nur eine hübsche Art, die Sichtweise eines anderen zu verstehen. Es ist eine Waffe, die man zum eigenen Vorteil verwenden kann. Nachdem man die Sichtweise des anderen verstanden hat, kann man sie mit dem vergleichen, was er sagt, und herausfinden, ob er es selbst glaubt. Solcherart hat das Vorhandensein von Lügen im spracheigenen Phasenraum der angrenzenden Möglichkeiten die Entwicklung des menschlichen Einfühlungsvermögens gefördert und damit die individuelle
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