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Die Philosophen der Rundwelt

Die Philosophen der Rundwelt

Titel: Die Philosophen der Rundwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
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etwas anderes sagt, als was er unserer Meinung nach denkt, dann argwöhnen wir, dass er lügt.
    Das Wort »Lüge« hat einen negativen Beiklang, völlig zu Recht, doch wovon wir hier sprechen, kann nicht nur destruktiv sein, sondern auch konstruktiv, und oft ist es das auch. Für die gegenwärtige Erörterung ist eine Lüge alles, was der Wahrheit widerspricht, doch es ist durchaus nicht klar, was »die Wahrheit« ist oder auch nur, ob es nur eine gibt, wie das Wort »die« anscheinend besagt. Wenn zwei Leute Krach miteinander haben, können in der Regel weder sie beide noch sonst jemand genau herausfinden, was eigentlich passiert ist. Unsere Gedanken werden durch Wahrnehmungen eingefärbt. Das ist unvermeidlich, denn was wir für »wirklich« halten, ist das, was unser Geist aus den einlaufenden Eindrücken der Sinnesorgane macht: erfunden, abgestimmt und von einer Folge von Interpretationen durch verschiedene Teile des Hirns verarbeitet, plus etliche Ergänzungen für die Hintergrundtapete. Wir wissen nie, was wirklich da draußen um uns ist. Alles, was wir wissen, ist, was unser Geist sich aus dem zusammenreimt, was unsere Augen, Ohren und Finger melden.
    Ohne das Wort allzu sehr auf die Goldwaage zu legen – diese Wahrnehmungen sind Lügen. Das lebhafte Universum der Farben, das unser Gehirn aus dem Licht ableitet, welches auf unsere Netzhaut fällt, existiert nicht wirklich . Die rote Farbe einer Rose ist aus ihren physikalischen Eigenschaften abgeleitet, doch »rot sein« an sich ist keine physikalische Eigenschaft. »Licht einer bestimmten Wellenlänge abstrahlen« kommt einer physikalischen Eigenschaft näher. Das lebhafte Rot, das wir »sehen«, entspricht jedoch keiner bestimmten Wellenlänge. Unser Gehirn korrigiert bei den Farben von Seheindrücken Schatten, Reflexionen von einer anderen Farbe aus anderen Teilen des Bildes und dergleichen. Unsere Empfindung der Röte ist eine Dekoration, die unser Gehirn der Wahrnehmung hinzufügt: ein Qualium. Was wir »sehen«, ist also nicht eine akkurate Wahrnehmung der Wirklichkeit, sondern eine geistige Umformung einer Sinneswahrnehmung von der Wirklichkeit.
    Für eine Biene kann dieselbe gleichmäßig rote Rose ganz anders aussehen und deutliche Merkmale haben. Die Biene »sieht« im Ultraviolett, einer Wellenlänge außerhalb unserer Wahrnehmung. Die Rose sendet eine Vielfalt von Lichtwellenlängen aus; wir sehen einen kleinen Teil davon und nennen ihn Wirklichkeit. Die Biene sieht einen anderen Teil und reagiert darauf auf Bienenart, indem sie die Merkmale nutzt, um auf der Blume zu landen und Nektar zu sammeln oder sie außer Acht zu lassen und zur nächsten Gelegenheit weiterzufliegen. Weder die Wahrnehmung der Biene noch unsere ist die Wirklichkeit.
    In Kapitel 24 haben wir erklärt, dass unser Geist seine Wahrnehmungen auf verschiedene Weise auswählt, statt nur passiv Signale zu ignorieren, die unsere Sinne nicht aufnehmen können. Wir stimmen unsere Sinne fein darauf ab, zu sehen, was sie sehen, und zu hören, was sie hören sollen. Es laufen mehr Nervenbahnen vom Gehirn zum Ohr als vom Ohr zum Gehirn. Diese Verbindungen passen die Fähigkeit des Ohres an, bestimmte Klänge zu hören, vielleicht, indem sie es empfindlicher für Geräusche machen, die Gefahr bedeuten könnten, und weniger empfindlich für Geräusche, die weiter nicht wichtig sind. Menschen, die als Kinder bestimmte Laute nicht hören, wenn ihre Ohren und ihr Hirn auf die Aufnahme von Sprache abgestimmt werden, können sie als Erwachsene nicht unterscheiden. Für Japaner klingen die beiden Phoneme L und R identisch.
    Die Lügen, die uns unsere Sinne erzählen, sind nicht bösartig. Sie sind eher Teilwahrheiten als Unwahrheiten, und das Universum ist derart kompliziert, und unsere Sinne sind im Vergleich dazu so einfach, dass Halbwahrheiten das Beste sind, worauf wir jemals hoffen dürfen. Selbst die esoterischste »Grundlagen«-Physik ist bestenfalls eine Halbwahrheit. Je »grundlegender« sie wird, umso weniger wahr wird sie im Grunde genommen. Es ist daher kein Wunder, dass die wirksamste Methode, die wir bisher entwickelt haben, um Extelligenz an unsere Kinder weiterzugeben, eine systematische Folge von Lügen ist.
    Das nennt man »Bildung«.
    Schon jetzt beim Schreiben können wir hören, wie sich die Nackenfedern sträuben, indes Quantensignale die Zeitlinien entlang zurückgeworfen werden – Signale von künftigen Lesern in Lehrberufen, die gerade diese Seite aufschlagen. Doch bevor

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