Die Philosophen der Rundwelt
Sie das Buch quer durchs Zimmer schmeißen oder dem Verlag eine empörte E-Mail schreiben, fragen Sie sich, wie viel von dem, was Sie Kindern sagen, eigentlich wahr ist. Nicht lobenswert, nicht vertretbar: wahr . Sogleich finden Sie sich in die Defensive gedrängt: »Ach ja, aber die Kinder verstehen natürlich nicht all die Komplexitäten der wirklichen Welt. Die Aufgabe des Lehrers ist es, alles zu vereinfachen, um das Verständnis zu fördern …«
Eben.
Diese Vereinfachungen sind Lügen in dem Sinn, den wir dem Wort gegenwärtig beilegen. Doch es sind nützliche Lügen, konstruktive Lügen, die sogar dann, wenn sie sehr falsch sind, eine Tür für besseres Verständnis beim nächsten Mal öffnen. Nehmen Sie zum Beispiel den Satz: »Ein Krankenhaus ist ein Ort, wo Leute hingeschickt werden und die Ärzte dafür sorgen, dass es ihnen besser geht.« Kein vernünftiger Erwachsener würde ja einem Kind sagen wollen, dass Menschen manchmal lebendig ins Krankenhaus gehen und tot wieder herauskommen. Oder dass es oft nicht möglich ist, es ihnen besser gehen zu lassen. Zunächst einmal kann es ja sein, dass das Kind einmal ins Krankenhaus muss, und eine zu große Portion Wahrheit von Anfang an könnte es den Eltern erschweren, das Kind ohne Aufruhr ins Krankenhaus zu bringen. Nichtsdestoweniger würde kein Erwachsener den Satz für eine akkurate Aussage darüber halten, worum es bei Krankenhäusern wirklich geht. Er beschreibt bestenfalls ein Ideal, dem Krankenhäuser nachstreben. Und wenn wir unsere Beschreibung damit rechtfertigen, dass die Wahrheit das Kind beunruhigen würde, geben wir zu, dass der Satz eine Lüge ist, und behaupten, dass gesellschaftliche Konventionen und menschliches Wohlbefinden wichtiger sind, als eine exakte Beschreibung zu geben, was in der Welt wirklich vorgeht.
Oft trifft das natürlich zu. Viel hängt vom Zusammenhang und der Absicht ab. In Kapitel 4 der Gelehrten der Scheibenwelt haben wir diese nützlichen Unwahrheiten und Halbwahrheiten »Lügen-für-Kinder« genannt. Sie müssen von den weitaus weniger wohlwollenden »Lügen-für-Erwachsene« unterschieden werden, die man auch »Politik« nennt. Lügen-für-Erwachsene werden zu dem ausdrücklichen Zweck entworfen, die Absichten zu verschleiern; ihr Ziel ist Irreführung. Manche Zeitungen erzählen Lügen-für-Erwachsene; andere tun ihr Möglichstes, um Wahrheiten-für-Erwachsene zu erzählen, obwohl es immer darauf hinausläuft, Erwachsenenversionen von Lügen-für-Kinder zu erzählen.
Im fünfundzwanzigsten Scheibenwelt-Roman Die volle Wahrheit kommt in Gestalt von William de Worde der Journalismus auf die Scheibe. Seine Laufbahn beginnt mit einem monatlichen Nachrichtenblatt, das an verschiedene bedeutende Persönlichkeiten der Scheibenwelt versandt wird, üblicherweise für fünf Dollar pro Monat, im Falle eines Ausländers aber für eine halbe Wagenladung Feigen zweimal jährlich. William de Worde schreibt eine Ausgabe und bezahlt Herrn Kratzgut, den Graveur in der Straße Schlauer Kunsthandwerker, dafür, dass er sie in Holz schneidet, wovon er fünf Exemplare druckt. Aus diesen kleinen Anfängen entsteht die erste Zeitung von Ankh-Morpork, als sich de Wordes Talent, einer Geschichte auf die Spur zu kommen, mit den von Zwergen erfundenen beweglichen Lettern verbindet. Es geht das Gerücht, die Zwerge hätten einen Weg gefunden, Blei in Gold zu verwandeln – und da die Drucktypen aus Blei sind, ist da schon etwas dran.
Der hauptsächliche journalistische Inhalt des Romans ist ein Auflagenkampf zwischen de Wordes »Ankh-Morpork-Times« mit ihrem Motto »DIE WAHRHEIT MACHT DICH FREI« und dem »Ankh-Morpork Kurier« (NACHRICHTEN, VON DENEN MAN SONST NUR HÖRT). Die Times ist ein seriöses Nachrichtenblatt, wo die Geschichten Überschriften wie »Patrizier greift Sekretär mit Messer an (Er hatte das Messer, nicht der Sekretär)« haben und die Tatsachen vor der Veröffentlichung überprüft werden. Der Kurier ist ein Boulevardblatt, dessen Schlagzeilen eher von der Art »ELFEN ENTFÜHRTEN MEINEN MANN!« sind und welches Geld spart, indem es alle Geschichten erfindet. Daher kann es den anspruchsvollen Konkurrenten beim Preis unterbieten, und die Geschichten sind viel interessanter. Die Wahrheit behält jedoch am Ende die Oberhand über billigen Unsinn, und von seiner Redakteurin Sacharissa erfährt de Worde schließlich ein Grundprinzip des Journalismus:
»Sieh die Sache einmal so«, sagte Sacharissa und begann mit einer neuen
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