Die Philosophin
lebte ganz allein mit seiner Mutter in einer kleinen Hütte am Dorfrand. Der Junge hieß Dorval und seine Mutter Sophie, und beide hatten sich so lieb wie sonst keine zwei Menschen auf der Welt. Und doch fehlte ihnen etwas, um wirklich glücklich zu sein – eine Familie.«
»Warum erzählst du mir das, Mama?«, fragte Dorval irritiert und entzog ihr seine Hand. »Wir sind doch gar nicht arm. Und … und wir leben auch nicht im Morgenland.«
Als Sophie seinen vorwurfsvollen Blick sah, schämte sie sich. Sie hatte versucht, ihm alles so zu erklären, wie ihr Vater es an ihrer Stelle getan hätte, oder wie Diderot – mit einem Märchen.
»Du hast ja Recht«, sagte sie. »Du bist für Märchen schon zu groß.«
»Weshalb willst du, dass Monsieur de Malesherbes mein Vater wird?«, fragte er ernst.
Sie entschloss sich, keine Ausflüchte mehr zu machen. »Weil ich glaube, dass es keinen besseren Vater für dich geben kann. Als sein Sohn würdest du zu einer der mächtigsten Familien Frankreichs gehören. Du wärst dann ein richtiger Prinz.«
»Ein richtiger Prinz?« Seine Augen leuchteten für einen kurzen Moment auf. »Mit einem eigenen Schloss?«
»Nicht nur mit einem! Soweit ich weiß, hat Monsieur de Malesherbes ein halbes Dutzend Schlösser. Eines davon steht sogar in meiner Heimat, an der Loire. Dann kann ich dir zeigen, wo ich früher gelebt habe.«
»Er hat ein Schloss an der Loire?«
»Ja, mit Weinbergen und Weiden für die Pferde und natürlich ganz vielen Handwerkern.«
»Auch Köchen und Schmieden?«
»Und Stellmachern, und ich glaube sogar, er hat dort eine eigene Schweizergarde.«
»Mit einem wirklichen Hauptmann?«
»Einem ganz und gar wirklichen Gardehauptmann!«
Während sie sprach, sah sie, wie es in ihm arbeitete. Das immer stärkere Leuchten in seinen Augen brach ihr fast das Herz. Obwohl es sie große Überwindung kostete, sagte sie: »Glaubst du mir jetzt, dass es keinen besseren Vater für dich geben kann?«
»Außer meinem richtigen Vater«, sagte er leise.
»Natürlich«, sagte sie und musste ihre Tränen unterdrücken.
»Aber was meinst du, sollen wir es nicht wenigstens versuchen?«
Zaghaft, kaum dass sie es erkennen konnte, wiegte er den Kopf.
»Eins musst du mir aber noch sagen, Mama …«
»Was denn, mein Schatz?«
»Darf ich weiter bei dir bleiben, wenn Monsieur de Malesherbes mich adoptiert?«
»Aber sicher! Glaubst du denn, ich ließe dich fort?«
»Und darf ich weiter die Eselstute melken und die Vögel füttern?«
»Jeden Tag! Morgens und abends.«
»Und wir bleiben hier wohnen, und ich kann den Koch in der Küche besuchen und den Schmied im Stall und den Stellmacher und den Hauptmann?«
»So oft du willst.«
Dorval verstummte. So angestrengt dachte er nach, dass sein kleines Gesicht sich in Falten legte. Schließlich sagte er: »Würdest du dich sehr freuen, wenn ich Ja sage?«
Obwohl sich jede Faser ihres Leibes dagegen sträubte, nickte Sophie.
»Also gut, Mama, dann bin ich einverstanden.«
Ohne etwas zu sagen, nahm sie ihn in den Arm und drückte ihn an sich, damit er die Tränen nicht sah, die an ihren Wangen herabliefen.
6
Antoine Sartine blätterte in einer Akte, die er nur aus dem Regal holte, wenn er die Tür seines Dienstzimmers verriegelt wusste. Er hatte diese Akte ausschließlich für seinen persönlichen Gebrauch angelegt, ohne Kenntnis seiner Vorgesetzten, und alle Einträge mit eigener Hand niedergeschrieben, obwohl er seit seiner Beförderung zum Magistrat und dritthöchsten Offizier der Pariser Polizei mehrere Schreiber unter sich hatte, denen er für gewöhnlich seine Berichte diktierte. Denn dieses Dossier betraf keinen der Dachstuhlschreiberlinge und Kaffeehausphilosophen, denen sonst seine Nachforschungen galten – dieses Dossier betraf einen Mann, der über jeden Zweifel erhaben schien und der doch seit einigerZeit Anlass zu erheblicher Irritation gab: Chrétien Lamoignon de Malesherbes, Sohn des Kanzlers und Zensor Seiner Majestät des Königs.
Konnte man diesem Mann noch trauen? Sartine hatte die Akte nach seiner erfolglosen Razzia im Haus Diderots begonnen. Es hatte Gerüchte in den Reihen der Polizei gegeben, höchst verwirrende Gerüchte über die Rolle, die der Direktor der königlichen Hofbibliothek bei dieser Aktion gespielt haben sollte. Seitdem trug Sartine in dieses Dossier alles ein, was ihm an der Person des obersten Zensors auffällig erschien. In nur wenigen Monaten war daraus eine der problematischsten Akten
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