Die Philosophin
Möglichkeit«, erwiderte d’Alembert. »Wir müssen Tabula rasa machen, ganz von vorn anfangen, bei den allerersten Ursprüngen, wie auf einer blank gewischten Schiefertafel. Erst dann können wir die einzelnen Ergebnisse der Wissenschaften und Künste darauf eintragen, in methodischem Fortgang, nach den Prinzipien der Mathematik,
clare et distincte.«
»Das klingt ja wie ein Lehrbuch der Geometrie! Wo bleibt da das wirkliche Leben?«
Der Ton des Gesprächs wurde plötzlich gereizt. Diderot hasste die herablassende Art, mit der d’Alembert ihn manchmal belehrte; umgekehrt wurde d’Alembert jedes Mal angst und bange, wenn Diderot sich auf das »wirkliche Leben« berief. Sie waren wie ein altes Ehepaar: Sie brauchten einander, ohne sich jedoch zu lieben.
»Leben ist Chaos«, erklärte d’Alembert, »Denken ist Ordnung! Das wusste schon Bacon.«
»Und was ist dabei herausgekommen? Die ganze Geschichte der Philosophie ist nichts als ein fortwährendes geistiges Möbelrücken. Statt das Gebäude selbst zu renovieren, hat man nur die Einrichtung immer wieder hin und her geschoben. Das menschliche Wissen im Prokrustesbett von Logik und Metaphysik.«
Diderot nahm einen Bogen Papier und skizzierte darauf einen Baum mit einem mächtigen Stamm und einer noch mächtigeren Krone mit zahlreichen Verästelungen und Gabelungen, die unterschiedlich große Kreise miteinander verbanden. In diese trug er einzelne Begriffe ein: Himmelskunde, Chirurgie,Malerei, Wollproduktion, schwarze Magie – in jeden Kreis der Baumkrone einen Begriff.
D’Alembert hob die Brauen. »Der Baum des Wissens?«
»Ja. Wie bei Ihrem verehrten Francis Bacon. Das ganze Wissen als ein organisches Ganzes, trotz der Verschiedenheit seiner Zweige.«
»Die Jesuiten werden behaupten, wir hätten Bacon kopiert.«
»Umso besser«, rief Diderot, »dann merken sie nicht, wenn wir ihn verändern! Bacon ist ein Heiliger, er macht uns unangreifbar. Solange wir uns auf ihn berufen, kann uns niemand in die Bastille werfen.«
Diderot nahm wieder die Feder zur Hand und kreuzte mehrere Kreise in der Baumkrone aus.
»Was soll das?«, fragte d’Alembert.
»Können Sie es nicht erraten?«, fragte Diderot zurück, während er weitere Kreise durchstrich.
»Oh, jetzt begreife ich.« Ein scheues Lächeln erhellte d’Alemberts Gesicht. »Sie meinen, statt den Wissensbaum zu verändern oder zu vergrößern, sollten wir ihn erst einmal stutzen?«
Diderot nickte. »Wahre Philosophie ist bescheiden. Sie lässt als Wahrheit nur gelten, was sich durch Vernunft und Erfahrung erschließt. Alle anderen Behauptungen sind Dogmen oder Vorurteile. Sie gehören in die Kirche, nicht in die Enzyklopädie.«
»Das bedeutet allerdings, dass wir das meiste, was den Menschen heilig ist, verstoßen müssen.« Aus d’Alemberts Augen sprach wieder die alte ängstliche Sorge. »Doch vom Standpunkt der Wissenschaft aus kann ich Ihnen nicht widersprechen.« Plötzlich verhärteten sich seine weichen Züge, und ernahm Diderot die Feder aus der Hand. »Ich glaube, ich weiß jetzt, wo wir die Grenze ziehen müssen.«
»Dann sind Sie klüger als ich.«
»Sie haben es doch gerade selbst gesagt. Hier«, erklärte d’Alembert und zog einen Strich quer über das Blatt, »zwischen dem, was wir wissen, und dem, was wir nicht wissen können. Das ist unsere Grenze, die methodisch begründete Scheide zwischen gesicherter Erkenntnis und metaphysischer Spekulation.«
Diderot grinste ihn an.
»Aber Monsieur«, sagte er mit einer Mischung aus Spott und Bewunderung, »sind Sie noch bei Trost? Was wird Magister Bacon dazu sagen?«
D’Alembert ließ sich nicht beirren. »Bacon war noch in finsterster Nacht geboren, er musste erst die Ketten der Scholastik zerbrechen. Für uns. Wenn wir seinen Baum verwenden, ist es unsere Pflicht, ihn neu zu zeichnen, nach bestem Wissen und Gewissen.« Mit zunehmender Sicherheit trug er seine Korrekturen in die Skizze ein. »Wenn wir das Ganze als ›System der menschlichen Kenntnis‹ bezeichnen, dann steht über allen einzelnen Bereichen der Verstand. Stimmen Sie mir darin bei?«
»Mit Vergnügen. Doch was kommt unter dem Verstand?«
»Woraus leiten wir unsere Kenntnisse ab?«, fragte d’Alembert zurück. »Aus den Dingen selbst? Aus der Offenbarung?« Er schüttelte den Kopf. »Ich würde sagen, aus unseren eigenen Fähigkeiten. Sie prägen und formen alles, was wir wissen.«
»Das verstehe ich nicht. Geben Sie mir ein Beispiel.«
»Nehmen Sie die Geschichte.
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