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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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Sie ist das Resultat unseres Erinnerungsvermögens, unseres Gedächtnisses. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Philosophie – sie gründet in unserereigenen Vernunft. So wie wir die Poesie unserer Einbildungskraft verdanken.« Er schrieb die drei Begriffe unter die Wurzel des Baumes. »Damit wären meiner Meinung nach die Hauptstränge benannt.«
    D’Alemberts braune Augen glänzten, als würde er in seinem Innern alles bereits vor sich sehen –
clare et distincte.
Diderot konnte nur staunend versuchen, seinen Gedanken zu folgen.
    »Sie meinen, Gedächtnis, Vernunft und Einbildungskraft sind die drei großen Kategorien?«
    »Ja. Sie bilden zusammen den Stamm des Wissensbaums, aus dem alle anderen Äste und Zweige hervorgehen.«
    »Aber wo bleibt die Theologie? Wenn wir die unterschlagen, sind wir geliefert!«
    »Auch in der Theologie leiten sich die Tatsachen von der Geschichte ab und beziehen sich auf das
Gedächtnis,
sogar die Prophezeiungen. Sie sind ja nur Geschichte, bei der die Erzählung dem Ereignis vorausgeht. Die Mysterien, die Dogmen, die Gebote sind ewige Philosophie und göttliche
Vernunft,
und die Gleichnisse der Bibel entspringen der
Einbildungskraft.«
    Diderot ging ein Licht auf. »Sie haben absolut Recht – eins folgt aus dem anderen.« Er nahm d’Alembert den Federkiel aus der Hand und führte die Zeichnung dort weiter, wo der andere sie unterbrochen hatte. »Demnach würde sich die Geschichte gliedern in Kirchengeschichte, weltliche Geschichte, Naturgeschichte usw.; die Philosophie in Wissenschaft von Gott, Wissenschaft vom Menschen, Wissenschaft von der Natur; die Poesie in erzählende Dichtung, dramatische Dichtung, allegorische Dichtung.«
    »Genau! Und so gelangen wir«, fuhr d’Alembert fort, »zurTheologie, Physik, Metaphysik, Mathematik, ferner zur Meteorologie, Hydrologie usw.«
    »Nicht zu vergessen«, ergänzte Diderot, »zur Mechanik, Astronomie, Optik …«
    »Natürlich. Und die verschiedenen Wissenszweige können wir miteinander verbinden, durch Querverweise zwischen den einzelnen Artikeln, aus denen sich das Ganze zusammensetzt wie die Natur aus den einzelnen Phänomenen …«
    »Durch die Verflechtung der Wurzeln mit den Zweigen. Um zu zeigen, wie sie ineinander wirken und sich gegenseitig erklären …«
    »Weil man die einzelnen Teile des Ganzen unmöglich erkennen kann, ohne sich mit den höher und tiefer gelegenen zu beschäftigen …«
    Während ihre Ideen immer schneller aufeinander folgten, wuchs auf dem Blatt vor ihnen der neue Baum des Wissens, der die Summe der menschlichen Kenntnisse in revolutionärer, noch nie da gewesener Weise gliederte. Theologie und Metaphysik, die den alten Wissensbaum mit ihrem welken Laub so sehr überwuchert hatten, dass die anderen Disziplinen darunter sich kaum entfalten konnten, verkümmerten nun zu ein paar dürren Ästen und Zweigen, während die Philosophie und Naturerkenntnis zusammen mit den Handwerken und mechanischen Künsten sich immer weiter ausbreiteten, in immer neuen Verästelungen und Verzweigungen.
    Als sie mit der Zeichnung fertig waren, war draußen ein neuer Tag angebrochen. Vollkommen übermüdet, doch immer noch wie im Rausch, betrachteten sie ihr Werk. Nach wie vor prangte die Wissenschaft von Gott hoch oben über allen anderen Wissenschaften und Künsten, nicht anders als vormals bei Bacon, als wäre sie weiterhin die unumschränkte Herrscherin;tatsächlich aber hatte ein Heer einst namenloser Kenntnisse und Fertigkeiten den neuen Wissensbaum fast vollständig für sich erobert.
    Die zwei schauten sich an. Hatten sie es geschafft, den Gordischen Knoten durchschlagen?
    »Ich glaube, wir können uns gratulieren«, sagte Diderot und reichte d’Alembert die Hand.
    »Francis Bacon möge uns beschützen!«, seufzte der andere und erwiderte sein Lächeln.
    Als er in die hingestreckte Hand einschlug, wurden im Treppenhaus eilige Schritte laut.
    »Was ist los?«, fragte d’Alembert irritiert. »Haben Sie Ihren Mietzins nicht bezahlt?«
    »Weiß der Teufel«, fluchte Diderot. »Der neue Monat hat doch noch gar nicht angefangen.«
    Da flog die Tür auf. Im nächsten Moment standen zwei Fremde im Raum.
    »Wer von Ihnen ist der Schriftsteller Denis Diderot?«
    »Ich«, sagte dieser, ohne zu begreifen. »Womit kann ich Ihnen dienen?«
    »Polizei«, erwiderte der eine Fremde und hielt ihm ein amtliches Siegel vor die Nase. »Sie sind verhaftet!«

8
     
    Es war alles so schnell gegangen, dass Diderot , als er Stunden

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