Die Phoenix-Chroniken: Asche (German Edition)
nachsagen, aber keine Resignation.
„Was ist los mit dir?“, fragte ich und schaute ihn mir genauer an. Er war dünner als sonst, nahezu blass. Bis jetzt war mir das gar nicht aufgefallen, weil seine Haut immer so dunkel war.
Er blickte zur Seite, und dieser kurze Moment des Zögerns verriet mir, dass er eigentlich etwas anderes sagen wollte: „Ich bin krank gewesen.“
„Du?“ Jimmy wurde nie krank. Wahrscheinlich weil er schon vor seinem zehnten Lebensjahr jedem Erreger auf diesem Planeten ausgesetzt gewesen war.
In mir regte sich Besorgnis, aber ich unterdrückte sie. Er brauchte mich nicht. Noch nie.
„Und, fühlst du dich jetzt besser?“
„Mir ging es ein paar Tage lang echt beschissen, so schlecht wie noch nie. Aber ein bisschen Ruhe, viel trinken, und jetzt fühle ich mich wie neugeboren.“
Neugeboren klang er nicht gerade, eher so alt wie Methusalem, der Erzvater aus dem Alten Testament, der erst mit 996 Jahren den Löffel abgegeben hat.
„Was ist los mit dir?“, wiederholte ich sanft.
Er schwieg so lange, dass ich schon gar nicht mehr mit einer Antwort gerechnet hatte.
„Ruthie ist tot. Ist das nicht Grund genug?“
Das hatte ich nicht vergessen. Aber für mich war es nicht so, als sei sie endgültig fort; vielleicht weil ich in meinen Träumen noch mit ihr gesprochen hatte.
Dennoch war die Frau, die uns aufgezogen hatte, auf bestialische Weise ums Leben gekommen, und Jimmy wurde verdächtigt.
Die jüngsten Ereignisse hatten mir jedoch gezeigt, dass diese Anschuldigungen unberechtigt waren.
„Was hast du bei Ruthie gesehen?“, fragte ich.
Er sah mich scharf an. „Warum fragst du? Hattest du eine Vision?“
„Das könnte man so sagen.“
Jimmy schob sich langsam ins Zimmer herein und schloss die Tür hinter sich. Ich runzelte misstrauisch die Stirn. Warum hatte er die Tür zugemacht, es war doch sonst niemand da.
Meine Pistole war zu Hause, in Sicherheit. Nicht dass ich sie gegen Jimmy gerichtet hätte. Na ja, vielleicht. Aber das Messer hatte ich dabei. Verborgen in einem Gurt, den ich um die Hüfte trug, jedenfalls bis ich mich hingelegt hatte. Das Ding war jetzt in die Bettlaken gewickelt und ohne großes Aufheben kam ich nicht daran. Wollte ich ein großes Aufheben?
Jimmy blieb in einigem Abstand von mir stehen. Noch nicht.
„Was hast du gesehen?“, fragte er.
„Warum hast du ein Silbermesser auf meinen Nachttisch gelegt?“
Er sah mich groß an, machte aber keine Anstalten, es zu leugnen. „Hast du es gebraucht?“
„Ja.“
„Was hat dich angegriffen?“
„Ein Berserker.“
„Wolf oder Bär?“
Mir blieb vor Erstaunen der Mund offen stehen. In der Schule war Jimmy nicht gerade eine Leuchte gewesen, woher kannte er also das Wort?
„Ein Bär“, sagte ich. „Und woher weißt du darüber Bescheid?“
Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Ich wollte nicht, dass du da mit reingezogen wirst. Habe Ruthie gesagt, du seiest noch nicht bereit.“
„Bereit wofür?“
Er war unschlüssig, beklommen, schließlich hob er hilflos die Hände. „Es ist sowieso zu spät. Sie hat dir ihre Kraft gegeben. Jetzt musst du irgendwie damit fertig werden.“
„Womit?“
„Ruthie war besonders.“
„Und das merkst du erst jetzt, Sanducci?“
Er nahm keine Notiz von meinem Sarkasmus. „Sie hatte eine Gabe.“
Ich stand ganz reglos da. „Sie hat mir gesagt, sie habe mir ein Geschenk gemacht.“
„Hast du noch mit ihr gesprochen, bevor sie gestorben ist?“
„Nicht direkt“, murmelte ich.
Er kam näher und spannte dabei jeden Muskel seines Körpers so an, dass ich mich bedrängt fühlte und zurückwich. „Was bedeutet das?“
„Danach.“
Er blickte mich verwundert an. „Du sprichst jetzt auch schon mit Toten?“
„Nur mit Ruthie.“
Im Laufe der Jahre hatte ich einiges über parapsychologische Phänomene herausgefunden. Den Fachleuten zufolge nannte man meine Gabe „Psychometrie“. Das bedeutete, ich konnte durch bloßes Berühren von belebten oder unbelebten Dingen etwas über sie in Erfahrung bringen. Bedachte man meine plötzliche Fähigkeit, eine Tote zu sehen, zu hören und mit ihr zu sprechen, schien ich auch noch medial begabt zu sein.
Jimmy war ganz still geworden und überlegte. „Bei jedem wirkt diese Gabe anders. Ruthie hat immer behauptet, sie bekomme ihren Rat von Gott.“ Er schüttelte den Kopf. „Verdammt, ich glaube ihr sogar.“
„Wovon redest du überhaupt?“
Jimmy schaute mir jetzt direkt in die Augen. „In der Welt
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