Die Phoenix-Chroniken: Asche (German Edition)
Studium jemals angetreten hätte. Ich weiß nicht, wohin er damals gegangen ist, auf eine Hochschule jedenfalls nicht. Offensichtlich hat ihm die fehlende Ausbildung aber nie zum Nachteil gereicht.
Seine Art, die Dinge zu betrachten, war schon immer außergewöhnlich. Wenn er mich so anschaute, dann wollte ich ihm alles geben. Und alles, was ich damals hatte, war ich selbst.
Ich schüttelte die Erinnerungen ab und beschleunigte, um den Kleinlaster vor mir zu überholen. Den Tempomat stellte ich auf 110 ein. Natürlich hatte ich es eilig, aber ich wollte dort nicht in Einzelteilen ankommen, und vor allem wollte ich keinen Strafzettel wegen überhöhter Geschwindigkeit riskieren, sonst hätte noch der dümmste Bulle mein Ziel gewusst.
Widerstrebend rief ich Megan an und hinterließ ihr eine Nachricht. „Ich werde nicht gleich wieder zur Arbeit kommen.“ Ich zögerte, denn ich bat sie nur sehr ungern um einen Gefallen, aber es musste sein. „Sag mal, meinst du, du könntest mir eine Kopie von Ruthies gerichtsmedizinischem Befund besorgen?“
Wenn es jemand konnte, dann Megan. Max war ein hochdekorierter Polizeibeamter gewesen und sein Tod für die Polizei wie auch für alle Freunde und Bekannte ein großer Verlust. Es gab wohl keinen Bullen, der Megan etwas abschlagen würde.
Kurz nach zwölf hatte ich den Hof erreicht. Er lag wie ausgestorben da. Ich hatte gar nicht gewusst, dass die Muellers ihre Kühe zusammengepackt und das Land verkauft hatten.
„Hallo, ist da jemand?“, rief ich, ohne mit einer Antwort zu rechnen.
Das Haus war verriegelt, alle Fenster waren heil. Wie gut, dass der Hof weit genug von der Stadt und neugierigen Besuchern entfernt lag.
Nichts war mehr da. Keine Möbel, nicht einmal eine alte Zeitung lag noch irgendwo herum.
Im Stall war es genauso. Kein Heu. Kein Stroh. Kein Mist. Da waren ja richtige Saubermänner am Werk gewesen.
Nur in der ehemaligen Sattelkammer ergab sich ein anderes Bild. Anscheinend diente sie einem Arbeiter als Unterkunft. Bettzeug und Seesack deuteten darauf hin, dass jemand hier wohnte.
„Hallo?“, versuchte ich es noch einmal. Immer noch kein Lebenszeichen, also durchwühlte ich die Tasche. Um herauszufinden, wem sie gehörte, brauchte ich keinen sechsten Sinn. Sobald ich am Reißverschluss zog, stieg mir der Duft von Zimt und herber Seife in die Nase.
Außer Kleidung war da nichts – kein Ausweis, keine Kameraausrüstung, kein Messer, keine Kanone, nada.
Ich trat an die Hintertür und ließ meinen Blick über das sanft ansteigende Weideland gleiten. Das erste Grün und Gold spross schon, Wildblumen zwischen Unkraut, und auf dem Hügel hier und da Sprenkel von Schnee. Nur von Jimmy keine Spur. Also würde ich einfach hier auf ihn warten.
Ich setzte mich auf die Matratze. Eine Stunde später legte ich den Kopf auf sein Kissen. Zuletzt erinnere ich mich an den Sonnenuntergang.
Wrr-wrr, klick-klick-klick.
Ich öffnete die Augen. Die Kammer war in goldenes Abendlicht getaucht, in dem auch die Abermillionen winziger Staubteilchen um diese Stunde sichtbar wurden.
Ich lag im Bett. Jimmy stand mit gezückter Kamera im Türrahmen. Ein kurzer Blick versicherte mir, dass ich noch alle Kleider trug. Vielleicht hatte er nach den letzten Prügeln ja dazugelernt.
„Weißt du, die meisten Frauen würden die Bullen rufen, wenn irgendein Kerl sie einfach im Schlaf fotografiert.“
Er nahm noch nicht einmal die Kamera vom Gesicht. „Du bist nicht die meisten Frauen, und ich bin nicht irgendein Kerl.“
Klick.
Ich setzte mich auf. Seine Augen kamen über dem Objektiv zum Vorschein. „Komm schon, Lizzy. Ich bin fast fertig.“
„Du bist fertig.“ Er seufzte und legte die Kamera beiseite.
„Wo sind die Muellers hin?“
„Die haben schon vor einiger Zeit hier alles verkauft.“
Plötzlich hatte ich ein sonderbares Gefühl. „Verkauft an wen?“
Er presste die Lippen aufeinander.
Ich sprang auf. „Verdammt, Jimmy. Glaubst du, die Bullen sind dämlich? Ein Wunder, dass sie nicht schon vor mir hier waren.“
„Ich habe den Hof nicht direkt von ihnen gekauft. Spinnst du? Keiner wird mich finden, wenigstens vorläufig nicht.“
„Aber was machst du dann hier? Wenn du dich aus dem Staub machen willst, dann jetzt. Und wenn nicht, dann stell dich, klär die Sache, und mach mit deinem Leben weiter.“
„So einfach ist das nicht.“
Etwas in seiner Stimme ließ mich zögern. Sie klang so alt. Müde. Traurig. Niedergeschlagen. Man konnte Jimmy ja viel
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