Die Phoenix-Chroniken: Asche (German Edition)
Silberkugel erschossen worden war, warum hatte sie sich dann nicht in Asche verwandelt?
Vielleicht war sie gar keine Gestaltwandlerin.
Ich beugte mich zu ihr hinunter und berührte das glänzende Fell mit den Fingerspitzen. Ein plötzlicher Windstoß traf mein kurzes Haar.
Chindi , flüsterte Ruthie.
Eine Sekunde lang noch ließ ich die Hand auf dem Berglöwen ruhen, und der Wind blies weiter. Ich schloss die Augen und ließ Ruthie um mich herumwirbeln. Erst seit einer Woche war sie tot, und ich vermisste sie jetzt schon so sehr, dass sich mein Magen beim Gedanken an sie schmerzhaft zusammenzog.
„Lizzy?“ Ich öffnete die Augen. Jimmy und Springboard standen ein paar Meter von mir entfernt.
„Chindi“, sagte ich.
„Scheiße!“, fluchte Jimmy. „Du hättest es nicht erschießen sollen.“
„Eh, Mann. Sanducci. Schießen is mein Ding. Soll ich rumstehn und Optik schieben, bis das verdammte Vieh die neue Seherin killt?“
In Springboards Worten lag ein stummer Vorwurf, als hätte Jimmy beim Tod der letzten Seherin tatenlos zugesehen. Aber so war es ja nicht gewesen.
Das glaubte ich zumindest. In Wahrheit – wusste ich es nicht.
„Geh weg da“, befahl Jimmy.
Früher hätte ich mir das nicht gefallen lassen. Doch diese Zeiten waren vorbei. Ich war zwar eigensinnig, aber lernfähig. Wenn Jimmy wollte, dass ich mich von diesem toten Chindi, was immer das sein mochte, entfernte, dann tat ich es eben.
„Was ist ein…“, begann ich, aber noch ehe ich den Satz beenden konnte, wurde Springboard auf einmal ganz starr, als würde er ferngesteuert.
Angestrahlt von den Scheinwerfern des Hummers, standen wir noch immer wie im Rampenlicht, doch die Augen des Mannes neben mir waren so stumpf wie die des Löwen, tot und dennoch lebendig.
Springboard hob die Waffe und richtete sie auf meinen Kopf.
11
Z um Ducken blieb mir keine Zeit mehr. Und selbst wenn ich es geschafft hätte, wäre ich wohl kaum schneller als eine Gewehrkugel gewesen. Doch Jimmy war es.
Er stürzte sich auf Springboard und schlug ihm genau in dem Moment die Waffe weg, als der Schuss losging. Dann riss er den wesentlich größeren Mann zu Boden. Springboards Kanone war nach links geflogen und Jimmys nach rechts, während sich die beiden die Köpfe gegenseitig einschlugen.
Vielleicht war ich als Seherin neu in diesem Spiel, aber blöd war ich nicht. Springboard hatte versucht, mich zu erschießen, und deshalb würde ich den Spieß jetzt umdrehen.
Ich griff nach der Waffe, die mir am nächsten lag. Leider kugelten Jimmy und Springboard am Boden immer wieder über- und untereinander.
Jimmy war mit Prügeleien aufgewachsen, und bei Springboard schien es nicht anders gewesen zu sein. Obwohl Jimmy ihm an Kraft und Schnelligkeit überlegen war, hatte auch Springboard einiges zu bieten, die Ausbuchtungen seines Bizepses unter dem Seidenhemd waren nicht zu übersehen. Was er wohl für eine Kreuzung sein mochte?
Einige Minuten lang gewann keiner von beiden die Oberhand, und sie waren so ineinander verschlungen, dass ich keinen Schuss loswerden konnte. Dann hatte Jimmy das Herumspielen satt, so war das immer bei ihm, und rammte Springboard seinen Ellenbogen in die Nase. Es gab ein krachendes Geräusch, jemand heulte auf, und Blut strömte. Die beiden gingen auseinander, und ich legte an.
„Nicht schießen, Lizzy!“ Jimmys Stimme überschlug sich fast. „Er ist vom Chindi besessen. Wenn du seinen Leib tötest, dann springt der Dämon auf jemand anderen über. Wir müssen…“
Mit den Armen umschlang Springboard Jimmys Knie und zog mit einem Ruck. Jimmy fiel hart auf den Boden. Auch wenn er sich noch mit den Händen abfangen konnte, sein Kopf schlug auf die Erde, und er regte sich nicht mehr. Springboard, oder was einmal Springboard gewesen war, wandte sich nun mir zu. Beim Anblick seiner Augen musste ich unwillkürlich an Stofftiere, Teddybären und gruselige Puppen denken – stumpf, ausdruckslos und tot.
Er richtete sich auf; das Blut rann ihm über das Gesicht und hinterließ dunkle Flecken auf dem einst so eleganten blassroten Hemd. Ohne seinen dumpfen Zombieblick von mir zu nehmen, trat er über Jimmy hinweg, als sei dieser gar nicht vorhanden.
Meine Finger umklammerten den Auslöser, aber ich traute mich nicht zu schießen. Ich wollte keinen Dämon in mir haben, und in Jimmy wollte ich ihn auch nicht. Aber würde es mir gelingen, keinen Gebrauch von der Waffe zu machen, wenn er mir erst einmal auf den Leib gerückt war?
Ich
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