Die Phoenix-Chroniken: Asche (German Edition)
Gefühle. Aber du versetzt dich buchstäblich in die Lage eines anderen. Du kannst dir dessen übernatürliche Fähigkeiten zu eigen machen.“
Erstaunt blickte ich ihn an. „Weil du deine Gestalt wandeln kannst, kann ich es auch.“
„Ja“, sagte er schlicht.
Ich rieb mir die Stirn. „Das ist ja zum Kotzen.“
„Ich glaube, du wirst eines Tages froh darüber sein. Du wirst die mächtigste Seherin der Welt sein.“
„Toll“, murmelte ich und ließ die Hand sinken. „Wenn ich von jedem übernatürlichen Wesen, das mir unter die Augen tritt, die Kraft bekomme, werde ich am Ende platzen wie ein Luftballon.“
Noch bevor ich meinen Satz zu Ende gesprochen hatte, schüttelte er den Kopf. „Du nimmst diese Kraft nur einmal auf. Wenn du sie schon hast, dann geschieht gar nichts. Und du bekommst die Kraft auch nicht durchs Ansehen.“
„Wie denn?“
Sawyer zog die Brauen in die Höhe und breitete wie um Verzeihung bittend seine Arme aus.
„Anfassen?“
Wieder schüttelte er den Kopf, doch das Zucken um seinen Mund ließ keinen Zweifel. Mein Herz schlug so fest, dass es mir in der Brust wehtat.
„Durch Poppen“, flüsterte ich.
„Genau.“
Wir wurden beide ganz still, während ich versuchte, diese neue Erkenntnis zu verarbeiten. Mit tiefen Atemzügen beruhigte ich mein galoppierendes Herz wieder.
„Nur damit es keine Missverständnisse gibt“, sagte ich. „Ich habe deine Fähigkeiten aufgenommen, als du mich gefickt hast?“
Er verzog keine Miene. „Ja.“
„Und hast du gewusst, dass das passieren würde?“
„Ich war mir ziemlich sicher.“
„Wie konntest du dir ziemlich sicher sein?“, fragte ich spöttisch und zog dabei die Nase kraus.
„Weil ich die übersinnlichen Kräfte in anderen erkenne.“
„Wie praktisch.“
Meine Ironie machte ihm nicht das Geringste aus. In den vergangenen Jahrhunderten war er wahrscheinlich so damit überschüttet worden, dass er inzwischen immun war. Es war ihm ganz egal, was ich dachte. Für ihn war ich lediglich Mittel zum Zweck, die Welt zu retten. Darüber hinaus interessierte ich ihn nicht.
Wäre ich nicht Teil dieses Durcheinanders gewesen – wäre ich nicht für hehre Ziele gefickt worden –, hätte ich in ihm vielleicht den Helden gesehen. Aber ich war davon betroffen, und deshalb war er für mich nur ein Armleuchter, der andere nach Lust und Laune beeinflusste.
„Nimm es zurück“, sagte ich.
„Nein.“
„Ich will keine deiner Fähigkeiten.“
„Das ist mir egal.“
Wir schwiegen. Was gab es auch noch groß zu sagen?
„Weißt du, wer meine Eltern waren?“, platzte ich heraus.
Er blinzelte einmal und sagte dann langsam: „Warum sollte ich?“
„Von irgendjemandem muss ich ja meine Kräfte haben, ich dachte vielleicht…“
„Dass du eine Kreuzung bist oder sie eine Kreuzung waren?“
Ich zuckte die Achseln.
„Schon möglich. Aber ich weiß es leider nicht.“
„Wer könnte es denn wissen?“
Sawyer ließ den Blick kurz in die Ferne schweifen. „Auch das weiß ich nicht.“
Log er mich an? Wer konnte das wirklich beurteilen. Ich jedenfalls nicht.
Ich kehrte wieder zurück zur Tagesordnung. Laut Sawyer würde ich jetzt wie Ruthie in der Lage sein, das menschliche Gesicht der Nephilim zu sehen, ihr Wesen zu erkennen, sodass ich den Befehl zum Töten geben konnte. Diese Information würde mich erreichen durch ein… Gebet oder einen Engel? Ich hatte keine Ahnung.
„Werde ich Gottes Stimme hören?“ Sawyer warf mir einen angewiderten Blick zu. „Jetzt mal im Ernst. Wie funktioniert das?“
„Schließ die Augen.“
Ich gehorchte. „Öffne dich“, flüsterte er.
Bilder vom letzten Mal, da er diese Worte geflüstert hatte, überschlugen sich in meinem Kopf. Seine Lippen auf meiner Brust, seine Zunge, er tief in mir, wie er, stoßend, pulsierend…
Hastig schlug ich die Augen auf. Sawyer stand zu nahe bei mir, sein Körper in einer Linie mit meinem. Ich fühlte, wie sich seine Erektion durch die vielen Stoffschichten mir entgegenreckte. Einen Moment lang neigte ich mich zu ihm, und wir berührten uns leicht. Mir stockte der Atem, und ich spannte alle Muskeln im Körper an. Sawyers Pupillen wurden riesig, ihre Schwärze verdrängte auch den letzten Rest des Grau.
„Was hast du gesehen?“, fragte er.
Ich wollte unbedingt die Verbindung unterbrechen, doch das hätte ihm nur gezeigt, welche Wirkung er auf mich hatte. Also blieb ich, wo ich war.
„Nichts.“
Seine Hände legten sich liebkosend um meine
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