Die Phoenix-Chroniken: Glut (German Edition)
zog die Beine zu sich heran und legte das Kinn auf die Knie. Ich fragte mich, ob sie diese entzückende Pose wohl vor dem Spiegel geübt hatte.
Regentropfen plätscherten in den Teich und ließen in rascher Abfolge ein Pling-Pling erklingen. Draußen goss es in Strömen, trotzdem war Summer so trocken wie die Wüste im Juli.
„Die Lukaner gehören zur Familie der Werwölfe“, antwortete sie.
„Das habe ich schon begriffen, als sich die Leute in Wölfe verwandelt haben.“
Summers blaue Augen verengten sich. „Willst du jetzt wirklich was wissen oder nur den Schlaumeier raushängen lassen?“
Daraufhin sagte ich gar nichts mehr, denn offenkundig wollte ich beides; nach einer Weile fuhr sie schließlich fort.
„Die Lukaner trieben sich in der Nähe von Rom herum. Von manchen werden sie auch Lucumones genannt, das kommt von loco .“
„Also sind sie noch verrückter als die normalen Werwölfe?“
„Ja. Im Altertum haben sie sich zu Stämmen oder Rudeln zusammengefunden und ganze Städte ausgelöscht.“
Tötet sie alle.
„Ich glaube, die haben ihre Taktik nicht geändert“, murmelte ich.
„Lukaner verwandeln sich am Ende einer Zeremonie.“ Das deckte sich genau mit dem, was ich während meiner Vision gesehen hatte. „Haben sie eine Gegend erst einmal ausgedünnt, übernehmen sie alles, das Land, die Häuser, die Geschäfte. Ein Teil der Wölfe wird dann in die nächste Stadt entsandt, wo dieser wiederum ein neues Rudel gründet. Auf diese Weise überziehen sie ganze Landstriche.“
„Die römische Variante einer feindlichen Übernahme …“
„Sozusagen“, stimmte mir Summer zu. „Einige Wissenschaftler glauben, dass Lykaon, der König von Arkadien, der erste Lukaner war …“
„Wie kann er denn ein Grieche gewesen sein“, unterbrach ich sie, „wenn er doch in Rom gelandet ist?“
„Führten damals nicht alle Wege nach Rom?“
„Das müsstest du doch besser wissen.“
„Willst du damit sagen, dass ich alt bin?“, fragte sie.
„Eher vorsintflutlich.“
„Pech gehabt“, murmelte Summer. „Im Gegensatz zu dir altere ich nicht.“
Da hatte sie einen wunden Punkt getroffen.
Feen wurden tatsächlich nicht älter, ebenso wenig wie Nephilim. Kreuzungen wurden geboren und starben dementsprechend auch. Aber da sie selten krank wurden und jede Wunde heilen konnten, alterten sie nicht so schnell wie Menschen. Ich hatte keine Ahnung, was genau ich war, aber alterslos war ich bestimmt nicht.
„Zurück zu Lykaon“, gab ich ihr das Stichwort.
„Griechische Siedler brachten den Mythos nach Rom. Als sie mit den Werwölfen konfrontiert wurden, nannten sie sie beim alten Namen. Lukaner.“
„Und die Legende?“
„König Lykaon erhielt Besuch von Wanderern, die sich als Götter ausgaben. Lykaon glaubte ihnen aber nicht und stellte sie auf die Probe. Also servierte er ihnen ein Mahl, das mit Menschenfleisch versetzt war, eine fürchterliche Beleidigung. Aber die Götter durchschauten seine Hinterlist und verwandelten ihn zur Strafe in eine Gestalt, die für das Verschlingen von Menschen wesentlich geeigneter schien, nämlich einen Werwolf. Von seinem Namen leitet sich der Begriff für Werwolf, Lykanthrop ab.“
Die Mythen von übersinnlichen Wesen waren einfach der Versuch der Menschen, Erklärungen für Unerklärliches zu finden. Vom Anbeginn der Zeit an trieben die Nephilim ihr Unwesen auf Erden. Das bedeutete, dass die Lukaner schon seit dem Fall der Engel existierten und sich mit den Menschen gepaart hatten. Nur, dass sie ihren Namen erst mit dieser Geschichte um Lykaon erhalten hatten.
„Das Wichtigste hast du mir bislang verschwiegen.“ Ich setzte mich auf, begeistert darüber, dass mein Kopf nicht zu hämmern und mein Magen nicht zu rumoren begann. „Wie töte ich sie?“
„Indem du ihr Herz mit Feuer durchbohrst. Ich schlage einen brennenden Pfeil vor.“
„Sehe ich etwa aus wie Robin Hood?“
Summer schwieg. Was sollte sie auch schon darauf erwidern! Ich hatte ihr eine Frage gestellt, schließlich war es nicht ihre Schuld, dass mir die Antwort nicht gefiel.
Meine Künste als Bogenschütze waren ebenso gut wie die der meisten Frauen, also ausbaufähig. Das letzte Mal, als ich einen Bogen in der Hand gehalten und damit auf eine Zielscheibe geschossen hatte, war in der Highschool gewesen. Zwar stellte ich nun nicht gerade die Katastrophe schlechthin dar, aber dass ich einen Werwolf auf zwanzig Meter Entfernung ins Herz treffen könnte, war doch höchst zweifelhaft,
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