Die Phoenix-Chroniken: Glut (German Edition)
der Nähe des Sees sogar Steilfelsen, aber Bäume gab es kaum. Ich wunderte mich, wo zum Teufel diese jetzt hergekommen waren.
Mit einem Schlag begriff ich, warum die Lukaner für ihr Blutbad ausgerechnet Lake Vista ausgewählt hatten. Im Notfall konnten sie als Wölfe in den Wald rennen und auf der anderen Seite als Menschen wieder herausspringen.
Ich steuerte auf einen Sandweg zu, der geradewegs ins Dickicht führte. Auf dem unebenen Gelände kam der Impala ins Schaukeln, und trotz der vereinzelten Grasbüschel, die gegen die Stoßstange schlugen, schrammte das Fahrgestell über den Schotter.
Ich schaffte es bis in den Wald hinein, und als ich den Wagen zwischen zwei Bäumen zum Stehen brachte, umschloss uns die Dunkelheit mit einem beinahe hörbaren Seufzer. Durch die üppig wogenden Blätter fiel das Licht der untergehenden Sonne und tanzte auf der Windschutzscheibe.
Hinter mir lag drohend die zivilisierte Welt mit ihren Städten, Vorstädten und zahllosen Straßennetzen. Doch der Wald vor mir schien unendlich. Sicher, wenn ich immer weitergehen würde, stieße ich bestimmt irgendwann auf noch einen weiteren Vorort oder einen Highway. Aber in diesem Augenblick sah ich nichts als Bäume, keine Spur von einem anderen Auto, keinen Flecken matten grauweißen Betons. Da draußen konnte sich alles Mögliche herumtreiben.
„Auch der große, böse Wolf.“ Ich lachte, aber es klang gequält. Mit dem großen, bösen Wolf hatte ich schon Bekanntschaft gemacht. Er war nicht mit Großmutters Nachthemd, ihrer Haube und Brille bekleidet. Außer seinem Fell trug er gar nichts – und dann tötete er einen.
Ich erkundete das Gelände, suchte ein geeignetes Plätzchen, von wo aus ich meine Pfeile abschießen konnte, ohne dass sie von tief hängenden Ästen abgelenkt wurden, das mir aber gleichzeitig auch genug Deckung bot, damit ich nicht von jemandem gesehen wurde, der zufällig aus dem Fenster schaute.
Als ich dieses Plätzchen schließlich gefunden hatte, tauchte ich die Pfeile in Benzin und stapelte sie so, dass ich gut nachladen konnte.
Jetzt blieb mir nichts anderes mehr übrig als zu warten. Ich lauschte nach dem Wind, glücklich, dass er sich gelegt hatte, als würde auch er warten.
Durch nichts wurde ich gewarnt – weder durch scharrende Schritte noch durch leises Atmen, aber auf einmal fing die unsichtbare Zielscheibe auf meinem Rücken zu brennen an. Langsam drehte ich mich herum.
Aus der Tiefe des Waldes, wo das Licht der Dunkelheit gewichen war, leuchtete mich ein einzelnes Augenpaar an. Zu knapp über dem Boden für einen Menschen, zu früh für einen der Lukaner, aber dennoch, ich erkannte einen Wolf, wenn ich einen sah.
Nur ein einziges Augenpaar. War das ein Späher? Planten die Lukaner etwa, Lake Vista, so wie ich schon befürchtet hatte, vom Wald aus anzugreifen? Ich wollte eigentlich niemanden mit brennenden Pfeilen erschießen, der möglicherweise ein Mensch war. Aber das würde ich wohl doch tun.
Jedoch lagen meine Pfeile am Boden und die ungeladene Armbrust ebenso. Ich könnte zwar noch schnell danach greifen, aber da hätte sich der Wolf auch schon auf mich gestürzt, noch bevor ich einen Schuss losgeworden wäre.
Meine Glock lag im Auto, gegen die Lukaner war sie ohnehin unbrauchbar, aber mein Messer steckte am Hüftgurt. Ich ergriff das Heft. Zumindest könnte ich das Biest mit der Waffe etwas hinhalten.
Der Wolf schnaubte – eher amüsiert als wütend –, und ich erstarrte.
„Komm ins Licht“, murmelte ich. Und als er kam, ließ ich meine Hand sinken. „Saywer.“
Eigentlich hätte ich es wissen müssen.
10
W as tust du denn hier?“, wollte ich wissen.
Der schwarze Wolf trat ganz aus dem Schatten. Er sah wie ein gewöhnlicher Wolf aus: riesiger Kopf, lange Beine, Schwanz und Zähne. Nie im Leben könnte ich ihn mit einem Werwolf verwechseln; er war nicht groß genug, und sein Schatten, so er denn einen hatte, bildete nur seine tierische Form ab.
Saywer war ein Fellläufer – Hexenmeister und Gestaltwandler zugleich –, ein mächtiger Medizinmann, der auf dem dünnen Grat zwischen Gut und Böse wandelte. Von seinem Stamm war er verstoßen worden, die Navajos hatten es nicht so mit dem Übernatürlichen.
Von Zeit zu Zeit versuchte ihn einer seiner Stammesbrüder umzubringen. Bislang war es jedoch niemandem gelungen, denn es ist beinahe unmöglich, einen Fellläufer zu töten. Das war eine Tatsache, die zu seiner unheimlichen Biografie noch erschwerend hinzukam.
Vor
Weitere Kostenlose Bücher