Die Phoenix-Chroniken: Glut (German Edition)
und ging zur Tür. Beim Vorbeigehen warfen die Leute Saywer klammheimlich Blicke zu.
Der zweite Satz Touri-Klamotten war ebenso ungeeignet, Saywers Andersartigkeit zu verhüllen, wie der erste. Mit seinen hervorquellenden Bizepsen wirkte seine Haut in dem weißen Unterhemd noch erotischer, und seine Tätowierungen, zumindest diejenigen, die man sah, schienen in dem Kunstlicht zu schimmern und zu tanzen. Seine Haare ergossen sich wie ein ebenholzfarbener Fluss über seine Schultern.
Als wir in den Wagen stiegen, setzte sich Luther auf und rieb sich die Augen wie ein kleines Kind. „Wo sind wir?“
„Keine Ahnung.“ Ich beugte mich vor und hielt ihm eine Tüte mit Muffins und mehreren Milchtüten hin.
Luther strahlte vor Freude. Seine Zähne waren weiß, aber schief. Mit der Zunge fuhr ich über meine eigenen, auch nicht so ganz geraden Zähne – typisch Heimkind. Die Regierung wollte eben nicht für eine Million und eine Zahnspange zahlen.
Als er nach dem Essen und den Getränken griff, fragte ich: „Was weißt du von deinen Eltern?“ Dann berührte ich ihn sacht an der Hand.
Löwen. Viele Löwen. Pirschen durch das Vorstadthaus. Überall Blut.
Mommy, ihre Augen so wie meine, gelbgrün und zürnend. Sie ruft nach Daddy, um sich zu verwandeln, aber Daddy ist bei mir. Er berührt mich und dann …
„Ich war nicht dabei“, sagte Luther.
Er sagte mir die Wahrheit, oder was er für die Wahrheit hielt. Nachdem sein Vater ihn berührt hatte, war er nicht länger hier; weil sein Vater – der Zauberer – ihn woanders hingeschickt hatte.
Saywer sah mich prüfend an. Ich schüttelte den Kopf. Weder hatte Luther weitere nützliche Informationen für uns, noch glaubte ich, dass die Löwen – ob nun Marbas oder Barbas – von seiner Existenz wussten. Und wenn, dann hatten sie keine Ahnung, wohin er verschwunden war. Sonst hätten sie ihn nämlich verfolgt, und Luther wäre außerstande gewesen, sein Leben zu verteidigen.
Wie ein hungriger Löwe, in den er sich auch jederzeit verwandeln könnte, verschlang Luther Milch und Muffins, dann schlief er wieder ein. Er war eine seltsame, jedoch sehr liebenswerte Mischung aus kleinem Jungen und schon fast Mann. Ich fühlte mich zu ihm hingezogen. Wollte ihn beschützen, obwohl er sich selbst zweifellos wesentlich besser schützen konnte.
Als Luther tief und fest eingeschlafen war, flüsterte ich Saywer zu: „Ich habe etwas Seltsames gesehen.“
Dass ich das Wort seltsam in einer Unterhaltung über Löwenwandler und Zauberer benutzte, war an sich schon seltsam.
„Luther hat seine Eltern geliebt, sie haben ihn und einander geliebt.“
„Was ist daran denn seltsam?“
„Sie sind doch Dämonen, oder zumindest war seine Mutter eine Dämonin.“
„Glaubst du, Liebe sei nur etwas für Menschen?“
„Was ist denn mit deiner …“ Ich zögerte, doch er wusste genau, wen ich meinte.
„Genau wie es Menschen gibt, die wenig menschlich sind, gibt es Nephilim, die noch nicht einmal halbmenschlich sind.“
„Also war sie eine Ausnahme?“
„Leider war sie mehr die Regel, und was du in der Vergangenheit des Jungen gesehen hast, war die Ausnahme. Vielleicht hat der Zauberer nicht nur die Verwandlung steuern können, sondern auch ihre bösen Eigenschaften.“
Den ganzen Weg bis nach Brownport dachte ich noch darüber nach.
Brownport war klein, bestand größtenteils aus dem College, aber ohne das typische College-Flair. Möglicherweise fehlte auch nur das typische Wisconsin-College-Flair.
Zum Beispiel gab es nicht an jeder Ecke eine Kneipe. Es gab überhaupt keine Kneipen. Brownport schien auf dem Trockenen zu sitzen. Das war verständlich, wenn man bedachte, dass es zu den tiefreligiösen Regionen gehörte.
Stattdessen dienten die Geschäfte den Menschen, die hier lebten und arbeiteten. Eine Kirche gab es, und zwar eine riesige.
Im Süden der Stadt erstreckte sich das Brownport Bible College. Vor einem wogenden, in vollem Korn stehenden Maisfeld lagen die zehn Häuser, darunter zwei Wohnheime – eines für Jungen und eines für Mädchen.
Sowohl die Schule als auch die Stadt wirkten menschenleer. Der Website zufolge, die ich mir im Starbucks aufgerufen hatte, waren die meisten Schüler zu dieser Jahreszeit als Missionare tätig. Aber Carla hatte mir versichert, dass Dr. Whitelaw im Hause war – er wohnte hier – und ich ihn am späten Nachmittag, also kurz vor seinem abendlichen Ferienkurs, in seinem Büro antreffen würde.
Ihn zu finden war nicht
Weitere Kostenlose Bücher