Die Pilgergraefin
Gräfin, der Achtung gebührte – noch dazu verwitwet. Kurz klammerte sich Leonor an diese Erklärung für sein Verhalten.
Doch dann kam ihr ein neuer niederschmetternder Gedanke. Warum hatte sie bisher noch nie daran gedacht? Der Chevalier mochte Mitte zwanzig sein – ein Alter, in dem die meisten Männer längst vermählt waren. Vielleicht hatte er ja bereits Weib und Kind in Frankreich? Was wusste sie denn schon von ihm? Oder eine betörend schöne junge Edeldame, der er versprochen war, erwartete sehnsüchtig seine Rückkehr, um endlich mit ihm vermählt zu werden? Eine junge Frau, gehüllt in Samt und Seide, verführerisch weiblich – im Gegensatz zu ihr, die Beinlinge und eine schlichte Tunika trug …
Verzweifelt biss Leonor sich auf die Lippe, bis sie Blut schmeckte. Nein, das durfte nicht sein. Unerträglich der Gedanke, den Chevalier an eine andere zu verlieren. Und schon überkam sie wieder dieses unbändige Verlangen. Sie erinnerte sich an Predigten des alten Burgkaplans, die solche Fleischeslust als ein Werk des Teufels angeprangert hatten. Eine Sünde, eine Prüfung, der sie widerstehen musste …
Indes, wie eine Sünde, wie ein Werk des Teufels kam es ihr nicht vor … vielmehr empfand sie das süße Sehnen, das nach Erfüllung verlangte, wie ein Geschenk des Himmels.
Um sich abzulenken, rief sie sich ins Gedächtnis, warum sie nach Rom gepilgert war, welche Gefahren sie gemeistert hatte. Danach dankte sie Gott dafür, dass er sie beschützt hatte, dass sie lebte und morgen am Grab des heiligen Paulus für ihre Schuld Abbitte leisten und für das Seelenheil des Gemahls und ihres kleinen Sohnes beten konnte.
Und dann ging ihr, wieder einmal, die erschreckende Frage durch den Sinn: Was würde aus ihr werden, wenn sie Rom – und den Chevalier – verlassen musste? Ganz allein stünde sie da auf der Welt. Wohin sollte sie sich wenden? Selbst wenn es ihr gelänge, wohlbehalten in die Heimat zurückzukehren – was erwartete sie dort schon: ein liebloses Leben hinter Klostermauern, unter der Fuchtel von Hildegardis, der eiskalten Äbtissin. Bei ihren Besuchen im Kloster hatte sie die Oberin kennengelernt und wusste, dass diese Frau, obzwar noch recht jung an Jahren, unerbittlich war, nicht nur ihren Mitschwestern gegenüber, sondern auch im Hinblick auf die adligen Witwen, die im Stift leben mussten. Mit einer dieser Frauen, kaum älter als sie selbst, hatte sie einmal sprechen können, da es zu ihren Aufgaben als Gräfin von Eschenbronn gehörte, wenigstens einmal im Jahr dem Kloster einen Besuch abzustatten. Obwohl diese ihren Kummer nur angedeutet hatte, war die tiefe Traurigkeit in ihren Augen unverkennbar gewesen. Doch sie hatte nichts für sie tun können.
Nochmals schlimmer erschien ihr die Alternative – eine Ehe mit dem widerwärtigen Baron von Attenfels.
Und das Schrecklichste überhaupt war: Sie würde Robyn nie wiedersehen. Ja, das war der schlimmste Gedanke von allen.
Warum nur erfüllte er sie mit solchem Verlangen? Und warum konnte sie sich diesem einfach nicht entziehen? Schon wieder bemächtigte es sich ihrer. Dabei kannte sie den Chevalier doch erst seit kurzer Zeit. War es möglich, dass man sich zu einem Manne, der einem fast fremd war, derart hingezogen fühlte? Hatte er sie mit seinen grau-grünen Augen verzaubert? Als sie jetzt den Druck eines warmen, muskulösen Schenkels an ihrer Hüfte verspürte, wurde sie sich aufs Neue der gegenwärtigen Situation bewusst, und wieder verspürte sie dieses machtvolle Ziehen im Leib und diesen schier unüberwindlichen Drang, den Mann an ihrer Seite in die Arme zu ziehen.
Tränen traten ihr in die Augen. War es Liebe, was sie für Robyn de Trouville empfand? Oder nur niedere Lust, sündiges Begehren, für das sie mit den Flammen der Hölle bestraft werden würde?
Ebenso bewegungslos wie Leonor lag auch Robyn auf der schmalen Bettstatt. Unfähig, Schlaf zu finden, die Augen weit geöffnet, starrte er ins Dunkel der kleinen Kammer. Vergeblich versuchte er, der Gedanken und Gefühle, die ihn durchströmten, Herr zu werden.
Seitdem er Leonor in der Burg des verruchten Marchese halb nackt gesehen hatte, war es um ihn geschehen – und er empfand tiefste Verwirrung. Einerseits war er unendlich froh, dass sie sich als Frau entpuppt hatte – er sich also nicht zu seinem Knappen hingezogen gefühlt hatte –, und wollte sie am liebsten in die Arme reißen und küssen und kosen, bis sie vor Lust vergingen. Gerade hier und jetzt auf
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