Die Pilgergraefin
blutigen Fetzen umwunden waren, von Buckligen und Skrofulösen, von Lahmen mit einfachen selbst gemachten Krücken und von schreienden Säuglingen, die ihr flehend entgegengehoben wurden und deren Mütter gar ihre mageren Brüste entblößten, um zu zeigen, dass sie keine Milch hatten.
Robyn, der ihre Reaktion bemerkt hatte, erklärte: „Auf meinen weiten Reisen habe ich die Erfahrung gemacht, dass Bettelei oftmals auch nicht mehr als ein Geschäft ist. Die meisten der Verkrüppelten machen sich am Abend mit ihren Einkünften flink zu ihrer Unterkunft auf.“ Auf Leonors ungläubigen Blick hin gab er jedoch zu: „Nun gut, einige unter ihnen leiden wirklich Not und sind versehrt. Aber es ist sehr schwierig zu erkennen, wer wirklich unserer Hilfe bedarf.“
Eine abgezehrte Frau mit einem mageren Kind mit großen Augen in einem schmalen Gesichtchen tat Leonor so leid, dass sie ihr einige Münzen reichte. Die beiden sahen wirklich so erbärmlich aus, dass es sich nicht um eine Finte handeln konnte.
Dann erreichten sie die Basilika des heiligen Paulus, vor der sich Pilger aus aller Herren Länder drängten. Hier herrschte ein solch geschäftiges Treiben, wie Leonor es nie zuvor gesehen hatte. Das Ganze glich eher einem Jahrmarkt denn einem frommen Ort. Noch lauter als die Marktschreier priesen die Händler ihre Waren an, sei es für das leibliche oder für das seelische Wohl. Insbesondere hatte sich eine erkleckliche Anzahl von Devotionalienhändlern eingefunden. Etliche von ihnen boten Reliquien aller Art feil, angefangen von Fingerknöchelchen irgendeines obskuren Heiligen bis hin zu zahllosen Splittern vom Kreuze Jesu.
Dieses Kreuz muss riesig gewesen sein, dachte Leonor ketzerisch.
„Nun?“, fragte Robyn. „Möchtest du nicht einen Kreuzessplitter oder eine andere Reliquie zur Erinnerung an deine Wallfahrt und zu deinem Schutz erwerben?“
Leonor sah ihn verblüfft an. Glaubte der Chevalier etwa an solche Dinge, obwohl er so weltoffen und gelehrt war? Den leichten Spott in seiner Stimme hatte sie nicht bemerkt.
Energisch schüttelte sie den Kopf. „Nein. Niemand kann sagen, ob diese Gebeine tatsächlich von einem Heiligen stammen oder vielleicht gar von einem Schwein. Da vertraue ich doch lieber auf Gott und die Fürsprache der Heiligen Jungfrau. Immerhin haben sie mich auch wohlbehalten und unversehrt bis hierher geführt.“
Robyn nickte, angetan von Leonors Einstellung.
Sie wandte den Blick von den Händlern ab und ließ ihn suchend über die Menge schweifen, ob sie wohl Pater Anselm oder einen ihrer früheren Gefährten entdecken könnte. Indes war es sehr unwahrscheinlich, dass diese überhaupt in Rom weilten und sich ausgerechnet am selben Tag wie sie vor der Basilika einfanden. Vielleicht waren sie ja bereits wieder abgereist oder hatten die heilige Stadt noch gar nicht erreicht. In der Tat entdeckte sie keinen ihrer ehemaligen Gefährten, die sie und Anna in den Bergen verloren hatten. Bei dem Gedanken an Anna, die ihr Leben für sie gelassen hatte, traten ihr Tränen in die Augen, wie schon so oft während ihrer Reise, wenn sie der Getreuen gedacht hatte.
Robyn bemerkte das feuchte Glitzern in Leonors Augen und wusste es nicht recht zu deuten. War sie ergriffen, weil sie das Ziel ihrer Wallfahrt erreicht hatte? Oder bedeuteten die Tränen, dass der bevorstehende Abschied von ihm sie schmerzte? Er sprang aus dem Sattel, winkte einen der herumlungernden Knaben heran und gab ihm eine Münze. Dann befahl er ihm, gut auf die Pferde aufzupassen, und versprach ihm eine weitere, wenn er bei seiner Rückkehr alles zu seiner Zufriedenheit vorfinden würde.
Auch Leonor war abgestiegen. Da sie dem Straßenjungen nicht so recht traute, bedeutete sie Tarras, nicht von den Fersen des Bengels zu weichen. Denn immerhin handelte es sich bei dem Rappen des Chevaliers um ein äußerst wertvolles Tier, und auch das Packpferd mit den Satteltaschen und ihr Maron stellten eine große Versuchung für Diebe dar, von denen es hier gewiss nur so wimmelte, da der große Menschenandrang nur allzu leichte Beute versprach. Der große Hund blickte sie daraufhin treuherzig an, und Leonor wusste, dass er ihren Befehl verstanden hatte.
Gemeinsam mit dem Chevalier reihte sie sich in die lange Schlange der Pilger und Bittsteller ein und fragte sich, was sie am Grab des Apostels erwarten mochte.
Endlich traten Leonor und Robyn durch das Portal von St. Paul vor den Mauern, so genannt, weil die Kirche an einem Ort errichtet worden
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