Die Pilgergraefin
Gewalt angetan worden war.
„Seid Ihr gewiss, Sieur, dass dies die richtige Straße ist?“, wandte sie sich besorgt an den Ritter.
„Ich denke schon“, erwiderte Robyn. „Zwar bin ich von der Gegend ebenfalls nicht angetan, aber wir brauchen nun mal ein Dach über dem Kopf und müssen uns von dem langen Ritt und dem Kampf gegen die Räuber erholen. Ich hoffe, es gibt die Möglichkeit, ein Bad zu nehmen, denn ich möchte, wenn ich morgen im Palazzo der Colonna vorspreche, präsentabel aussehen.“ Er warf einen Blick auf Leonor, die, genau wie er, vom Staub der Straße bedeckt war. „Und du wirst gewiss auch ordentlich und reinlich am Grabe des Apostels knien wollen.“ Er deutete mit der Hand voraus. „Sieh, dort ist das Schild, das auf die Herberge hinweist. Eine Nacht werden wir es hier wohl aushalten.“
Vor ihnen, beleuchtet von zwei Pechfackeln in eisernen Haltern, befand sich ein einfaches Holzschild, das ungelenk mit den Worten „Albergo Lucia“ bemalt war.
Sie schwangen sich aus dem Sattel, und Leonor hielt die Zügel der drei Pferde, derweil Robyn das Haus betrat, um mit der Wirtin zu sprechen. Dabei sah sie sich immer wieder wachsam in der dunklen Gasse um, ob sich ihr Diebe oder anderes Gesindel näherten, doch sie erblickte nur eine greise Frau, die sich schwer auf ihren Stock stützte. Allerdings machte auch diese sie – nach ihrer Erfahrung mit der vermeintlichen Nonne – misstrauisch, aber die Alte schlurfte gebeugten Hauptes an ihr vorbei und verschwand in einem der Häuser.
Wenig später tauchten einige stark geschminkte Frauen in bunten, teils durchsichtigen Gewändern auf, die dem Wein offenbar bereits kräftig zugesprochen hatten, denn ihr Gang war unsicher und schwankend. Keine Frage, dass sie dem Gewerbe nachgingen, das man als das älteste der Welt bezeichnete. Einige von ihnen warfen ihr, da sie sie für einen Knappen hielten, schmachtende Blicke zu, doch Leonor wandte sich rasch ab. Wo bleibt Ritter Robyn nur, fragte sie sich, da nun auch noch einige Jünglinge – offensichtlich Lustknaben – auftauchten, die sie ebenfalls begehrlich musterten und obszöne Handbewegungen machten. Einer der Burschen trug gar ein Frauengewand. Verkehrte Welt! Da war sie, Eleonore von Eschenbronn, als Schildknecht gewandet, und ein hübscher Jüngling verkleidete sich als Frau.
Oh, in was für einer Gegend waren sie hier nur gelandet?
Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, kehrte endlich der Chevalier zurück und zuckte die breiten Schultern. „Weiß Gott, ich habe schon bessere Unterkünfte gesehen – aber auch wesentlich schlechtere. Ich fürchte, heute Abend werden wir nichts Komfortableres mehr finden. Hoffentlich sind die Schlafkammern reinlicher als die Gaststube. Komm, lass uns die Pferde in den Stall bringen.“ Er deutete auf einen Torbogen neben der Herberge.
Beim Anblick der Unterstände zuckte Leonor zusammen. Dunkel, eng und nicht gerade sauber. Deutete das auf den Zustand ihrer Kammer hin?
Gemeinsam mit dem Chevalier versorgte sie die Tiere, immerhin gab es Wasser und Heu. Nachdem sie Tarras’ Verletzung überprüft und erneut versorgt hatten, nahmen sie die Satteltaschen und wandten sich zum Gehen.
Als der Hund ihnen folgen wollte, befahl Robyn ihm zu bleiben. „Tut mir leid, alter Junge, aber du darfst nicht ins Haus. Die Wirtin duldet keine Hunde in ihren edlen Gemächern“, sagte er spöttisch. „Wir bringen dir später was zu fressen.“
Tarras bellte kurz auf, wie zum Protest, legte sich dann aber im Stroh nieder.
Gesenkten Kopfes verließ Leonor hinter dem Chevalier den Stall. Was mochte sie in diesem düsteren Gemäuer erwarten? Und die wichtigste Frage: Würde sie die Schlafkammer oder gar das Bett mit Robyn teilen – und wie würde er sich verhalten, wenn sie einander so nahe waren? Würde er auch dann noch ignorieren, dass sie eine Frau war?
Und was würde sie tun, falls er sich ihr näherte?
Nach einem Mahl, das nicht wirklich schmeckte, sondern lediglich den Hunger vertrieb, das sie in der von einigen Öllämpchen dürftig erhellten Gaststube verzehrten, nahm Lucia, die Wirtin, einen Leuchter mit einer Unschlittkerze und führte ihre Gäste über wacklige Holzstiegen hinauf in das oberste Stockwerk.
So helfe Gott, dass kein Feuer ausbricht, dachte Leonor, denn dann wären sie unter dem Dach dem Tode geweiht. Lieber hätte sie unter freiem Himmel übernachtet, wie sie es getan hatte, als sie mutterseelenallein die Alpen überquerte.
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